Futuristische und utopische Notizen von Christian Heller a.k.a. plomlompom.
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So, bald einen Monat nach meiner letzten Teilnahme an dieser aufregenden, aber auch arbeitserfordernden Diskussion (Kommentare lesen!) schalt ich mich mal wieder ein :-)
@Aleks:
1. Du verstehst sicherlich mehr von Kosmologie als ich, insofern will ich deinem Schluss hier auch nicht widersprechen, dass aus einer extrem langfristigen Perspektive heraus gesehen eh alles für die Katz sein mag. Allerdings verorte ich dieses “eh für die Katz” noch immer als ziemlich weit entfernt, jedenfalls als weit entfernt genug für eine ganze Menge noch übrigen weiteren Entwicklungs-Spielraum für die menschliche Zivilisation. Und warum den nicht auskundschaften?
2. Dass wir uns in einem solchen Prozess verändern und am Ende nicht mehr eine 1:1-Kopie unserer Wurzeln sein mögen, sei’s drum. Ich bin heute auch nicht derselbe, der ich vor zehn Jahren war. Ich bin aber immer noch eher derjenige, der ich vor zehn Jahren war, als dass ich ein einige Jahrmilliarden zurückliegender biologischer Vorfahre wäre. Ich bin auch eine Bewusstseinskontinuität, die sich an näher zurückliegende Erfahrungen oder Intelligenzprozesse mehr Identitäts-mäßig bindet als an weiter zurückliegende. Dasselbe würde dann auch für ein von dir postuliertes posthumanes Weiterentwicklungsstadium gelten.
3. Ich möchte aber gerade ein Sich-weiter-entwickeln-Wollen als ein wesentliches Identitätsmerkmal des Menschen behaupten. Insofern wäre eine auch qualitätsmäßige Entfernung unserer Nachfahren von uns nichts, was uns aus heutiger Perspektive von einer solchen Zukunft entfremden müsste, wenn sie denn zumindest ihren Ursprung in einem uns schon heute eigenen Streben nach (moralischer, mystischer, intellektueller, technischer, was auch immer) Selbstverbesserung trägt. Ob solche Zukünfte sich in uns wiedererkennen würden, kann uns heute eigentlich egal sein, solange zumindest umgekehrt wir uns durch eine solche Logik in ihnen wiederzuerkennen fähig wären.
4. Vielleicht ist ein solches Sich-weiter-Entwickeln im Sinne einer konstanten Veränderung gerade auch der Bezugssysteme langfristig ein besseres Maß als eine von 1 bis 100 reichende Fortschrittsskala nach einem Begriff wie psychologischem Wohlbefinden, Wohlstand oder Intelligenz. Es existiert auf diesem Planeten ja erst seit recht kurzer Zeit überhaupt so etwas wie ein Bewusstsein, das fähig ist, derartige Werte zu würdigen und derlei Maßstäbe auszuhecken. Ich spüre in mir ein Begehren nach Wohlbefinden, Erforschung meiner Umwelt und dem Sammeln einer großen Vielfalt und Intensität von Erfahrungen. Ist die Frage, inwieweit sich das auf die Perspektiven meiner Mitmenschen als Inventar angestrebter Werte verallgemeinern lässt, an dessen Ermöglichung sich so etwas wie eine Fortschrittsskala messen lassen könnte.
5. Aber gerade für solche Werte sehe ich in der Maschinerie Technologie-Wissenschaft (die durch Medizin und Versorgungswirtschaft die Bedingungen unseres körperlich/sinnlichen Wohlbefindens maximiert; unseren Intelligenz-Apparat durch Methodik und Intelligenz-Prothesen wie den Computer und das Internet expandiert; und uns durch Vergrößerung unseres Erkundungsumfelds und durch Verlängerung unserer Erkundungszeit und durch biotechnische Erweiterung unseres Erkundungsapparates den Erfahrungsraum vergrößert) gegenwärtig einen viel befähigteren Ermöglicher als etwa in Religion, deren Apparat oft primär darauf ausgelegt zu sein scheint, eine bestimmte enge, unflexible Erzählung zu stabilisieren durch Ausschaltung von Neugier/Skepsis und auf Kosten von Handlungs-/Erfahrungsspielraum.
6. Und dass es nach solchen obigen Werten heute den Menschen schlechter gehen soll als früher, das sehe ich jedenfalls nicht. Eine solche Perspektive kann meines Erachtens nur aus einer Überromantisierung der Vergangenheit herrühren.
@Ruben:
1. In gewissen Punkten schaffst du es tatsächlich, meine Perspektive des Geisteslebens im Mittelalters zu verschieben. Vielleicht gab es tatsächlich (womöglich gerade durch den Druck bestimmter geistiger Unfreiheiten) produktive geistige Radikalitäten, die ich bisher nicht ausreichend gewürdigt habe. Evtl. werde ich deiner Flasch-Buchempfehlung nachkommen. Ich möchte aber auch weiterhin daran erinnern, dass es mir gar nicht so sehr um Abwertung des Geisteslebens im Spätmittelalter geht, sondern mehr um die Jahrhunderte davor, direkt ab der Christianisierung Roms. Das schrumpft etwas die handliche Tausend-Jahre-Periode zusammen, die ich postulierte, aber nicht sehr. Sämtliche von dir genannten Denker liegen jedenfalls erst am Ende oder nach dieser Periode. Das verträgt sich durchaus mit der These einer viele Jahrhunderte dauernden geistigen Dunkelheit — irgendwo muss der Ausbruch ja starten, hundert Jahre mehr oder weniger fressen da den Kuchen auch nicht weg.
2. Wir können mangels Zeitmaschine eine uns ferne Periode gar nicht aus sich selbst heraus verstehen. Wir können nur versuchen, uns durch Quellenstudium in sie hineinzutasten, wobei wir eine Vorformung durch unsere eigene Welt nie ganz abschütteln werden können: Denn sonst würde uns die Kommunikationsgrundlage fehlen, irgendetwas, was wir über diese frühere Periode herausgefunden zu haben glauben, in unsere heutige Sprache zu übersetzen. Jede Betrachtung einer früheren Periode ist also bestenfalls eine Art “diff” mit unserer heutigen. Dass ein solches Diff nach einem reinen ‘war besser’ bzw. ‘war schlechter’ durchzuführen wenig ergiebig wäre, da stimme ich dir gerne zu. Aber letztlich können wir nur nach Quantität und Qualität Vergleiche anstellen, Dinge vom Damals zum Heute kalt mit Plus oder Minus quantifizieren und strukturelle Verschiedenheiten aufzeigen und auch die logische Eleganz eines mittelalterichen Systems nur erfassen oder behaupten, soweit sie von einer Logik erfasst werden kann, die uns heute zur Verfügung steht. Geschichte/Vergangenheit ist immer vor allem auch eine Erfindung aus der Gegenwart.
3. Als ich vorhin aus dem Fenster geschaut habe, war der Planet noch da. Und wahrscheinlich hat sich bisher keine Zivilisation in der Menschheitsgeschichte so sehr bemüht, die Bedingungen ökologischer Nachhaltigkeit zu verstehen und zu engineeren wie die heutige. Die Selbstschrottung diverser vormoderner Zivilisation von den Osterinseln bis zu diversen Kulturen der amerikanischen Ureinwohner zeigt, wie super ‘nachhaltig’ man ohne Aufklärung wirtschaften kann.
4. Erforschung auch unveränderlicher kosmischer Grundgesetze (aber auch deren Unveränderlichkeit muss irgendeiner Falsifizierbarkeit unterliegen; stelle ich morgen fest, dass nach dem Hinlegen von zwei Äpfeln neben zwei weitere Äpfel fünf Äpfel daliegen, muss ich vielleicht die Grundlagen meiner Mathematik in Frage stellen) betreibt man für Erkenntnisgewinn. Auch das ist schon Fortschritt und, ja, Veränderung des Ist-Zustands. Und dieses Streben nach Erkenntnisgewinn dürfte gerade auch im religiösen Zusammenhang durchaus ein Projekt der Selbstverbesserung (Veredelung / Purifizierung des Geistes, whatever) sein. Und damit alles Andere als zweckfrei. Ein egoistisches Projekt des Menschen: sei es nun, um Produktions-/Umweltausbeutungsprozesse zu optimieren oder aber um dem Himmel oder irgendeinem Geistesideal näher zu kommen oder ganz profan, Neugier zu befriedigen. Es fällt mir schwer, Zwecklosigkeit zu sehen, wo Handeln ist: Handeln, das in den Genen liegt, mag noch am Ehesten dieses Kriterium erfüllen, weil zweckafte Zuspitzung in der Evolution nur etwas (oft aber für den Erkenntnisgewinn sehr hilfreich) Hineininterpretiertes ist; aber sobald das Handeln der menschlichen Intelligenz entspringt, und das schließt das Denken selbst ein, dürfte es sich schwer von irgendeiner Intentionalität oder wenigstens einem Befriedigungsdruck entkoppeln lassen.
5. Die “tolerante Antike”? Ja, doch, im Mindesten in Sachen Religion. Rom war in Sachen Religion sehr integrativ: Man interessierte sich sehr für die Götter der Anderen und versuchte sie nach Möglichkeit mit dem eigenen Pantheon zu verschalten. Intolerant wurde man erst gegenüber Religionen mit Alleinvertretungsanspruch, soweit sie sich gegen diesen Pluralismus und das Imperium richteten. Offene wie geschlossene Kulte aus allen Ecken und Enden wurden in der vorchristlichen römischen Gesellschaft, in der Armee usw. geduldet, und auch den Juden überließ man die Selbstverwaltung in solchen Dingen. Aber eine von diesen sich abspaltende Sekte von sich Christen nennenden Weltuntergangspredigern, die die Werte Roms lautstark verdammten und sich gerne fanatisiert mit Märtyrertoden dagegen warfen, vielleicht vergleichbar heutigen islamistischen Selbstmordattentätern, nun, die riefen irgendwann (sich dann auch verselbständigendes) Misstrauen hervor, ja, durchaus. Und jetzt würde mich noch die von dir angerissene Geschichte der Zerstörung von Philosophenschulen und Bibliotheken-Abfackelkreuzzüge durch das vorchristliche Rom interessieren …
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Zur Kosmologie: AFAIK sehen die Daten im Moment nicht nach Big Rip aus. Das gibt uns Zeit bis zum (rein hypothetischen!) Zerfall der Protonen — in ca. 10^36^ Jahren, wenn überhaupt. Wem das nicht lang genug ist lege sich doch hin und gebe auf.
@Christian
ad 1.: Nein, ich meinte mitnichten nur das Spätmittelalter. Der Begriff des “Dunklen Zeitalters” (saeculum obscurum) wird klassischerweise nur auf das Spätmittelalter angewendet, daher stammt er. Auch aus der Spätantike und dem Frümittelalter lassen sich eine ganze Reihe Denker angeben, die zum Grundbestand der ganz großen Denker der Philosophiegschichte gehören und für jedes seriöse Philosophiestudium Pflichtlektüre sind (Boethius, Augustinus, Johannes Scotus Eriugena, Anselm von Canterbury, die ganzen Leute aus dem Universalienstreit). Zentrum der geistigen Höhe des Mittelalters ist das Hochmittelalter. Aber auch Leute wie Anselm haben es in sich. Anselm von Canterbury gehört zu den Typen, mit denen sich die Top-Logiker in der Fachphilosophie heute fast am liebsten auseinandersetzen.
ad 3.: Die ökologische Zerstörung des Planeten seit der Industrialisierung ist leider beispiellos in der Geschichte, da helfen auch keine Osterinseln zur Relativierung.
ad 4.: Du kannst nicht die Grundlagen der (mathematischen) Logik in Frage stellen. Beispielsweise kannst du nicht das Nichtwiderspruchsprinzip in Frage stellen, denn für diese Infragestellung musst du es wieder voraussetzen. Und logische Gesetze lassen sich nicht empirisch widerlegen, wer das behauptet, hat nicht kapiert, was logische Gesetze sind. – Was den Zweck angeht: Erkenntnisgewinn wird in Antike und Mittelalter als Zweck in sich selbst betrachtet. Er ist nicht mehr Zweck für etwas anderes, das außer seiner selbst liegt. Das ist der springende Punkt. Es geht nicht darum, dass Erkenntnisgewinn zweckfrei ist, sondern dass es sich bei seinem Zweck um einen intrinsischen Zweck handelt (das ist eine der großen Thesen von Aristoteles und Kant – bei Kant: Das Menschsein selbst ist Zweck in sich selbst, ein Mensch ist nicht einfach rundum Zweck für etwas anderes. Daraus resultiert Menschenwürde. Und in ihm selbst muss es Tätigkeiten geben, die Zwecke für sich selbst sind, so wie Erkenntnisgewinn, oder auch Liebe).
ad 5.: Die antike Christenverfolgung umzumünzen in Selbstverschulden durchgeknallter Selbstmordattentäter, das – mit Verlaub – ist echt der Gipfel unseriöser Thesenproduktion. Auf diesem Niveau diskutiere ich nicht, tut mir leid.
Die Versuchung ist gross, auf das Eingangsposting mit ‘nein, nein, nein und nein’ zu antworten. Der wahre Hintersinn aller deiner Thesen ist sorgsam verschleiert und hinter unklaren Begriffen verborgen, so dass man am Ende erstmal verwirrt nickt, bevor einem klar wird, dass alles Quatsch ist.
Ein paar Beispiele, die die Richtung anzeigen: Die “konstante Weiterentwicklung der Bezugssysteme” soll also das Mass sein, fuer was eigentlich, zur Beurteilung des Menschseins? Und welche Bezugssysteme? Nur unser Bewusstsein ist also faehig, “derartige Werte” zu wuerdigen und auszuhecken. Welche Werte? Werte sind allein abhaengig von unserem Bewusstsein? Vorher gab es keine? Im Hintergrund lacht diabolisch der Geist des Materialismus aus deinen Spruechen.
In Punkt 5 dann wieder die “Maschinerie Technologie/Wissenschaft”, die alles andere erledigt und fuer das Heil der Welt sorgt. Schon allein die synonyme Verwendung von Technologie und Wissenschaft, womit du Naturwissenschaft meinst, ist krank, das ganze noch als Maschinerie zu bezeichnen, bitte, etwas subtiler haettest du deine Philosophie schon verbergen koennen. Wo ist denn der technologische Fortschritt, wenn es z.b. eben um die Frage geht, wie zu leben sei (schoen warm und satt, vielleicht?) und was den Menschen ausmacht, eine Frage, die Aristoteles auch nicht schlechter beantwortet hat als irgendeiner das heute koennte.
Religion dann also stabilisiert eine “bestimmte enge, unflexible Erzählung” (aehm, was?) und schaltet die Neugier/Skepsis aus. Es ist schade, dass Skepsis neuerdings gleichbedeutend geworden ist mit Atheismus, aber ohne Neugier keine Religion, ohne Zweifel keine Religion, bzw. theistische Ueberzeugungen werden geboren aus dem Mut, auch dann noch weiterzufragen, wenn du dich schon selbstzufrieden hinter dem warmen Ofen aus falsifizierbarem Faktengeflecht und grossen fortschrittlichen Maschinen versteckst.
Es bleibt dabei. Du startest mit einer festgelegten Agenda und alles andere faellt dann in Reih und Glied. Ueber allem breitet sich leicht gruenlicher Nebel aus.
@Ruben:
1. (provisorisch conceded)
2. (dropped)
3. Ich sehe keine ökologische Zerstörung, nur Verwandlung. So einfach zerstört der Mensch die Ökosphäre nicht, er verwandelt sie schlimmstenfalls in etwas, das ihn selbst nicht mehr so gut tragen kann. Tatsächlich hat er sich im Zuge der wissenschaftlichen Technisierung immer mächtigeres Werkzeug zur Manipulation seiner Ökosphäre geschaffen. Damit einher ging aber auch immer größeres Verständnis und Gewissen für die Risiken dieser Manipulation und damit auch immer mächtigeres Ausgleichswerkzeug. Das Erwachsenwerden der Menschheit dürfte sich eher definieren durch ein von Verständnis ausgenüchtertes Ausbalanzieren größerer Gefahren als eine sich bereits an kleineren Gefahren selbstzerstörende Ignoranz. (Ich halte neugierigen Verstand für einen besseren Förderer und Bewahrer des Lebens und seiner Möglichkeiten als selbstbeschränkenden Aberglauben.)
4. Auch mathematische Logik ist, soweit sie als Denkwerkzeug praktiziert wird, erstmal ein Gedankengebilde, das sich in den Köpfen von Menschen verfangen und festsetzen musste, um sich derart zur Grundlage unserer Erkenntnismethoden zu mausern. Das dürfte diesem Gedankengebilde nur gelungen sein, weil es sich so stabil und zugleich flexibel so dauerhaft auf so viele Phänomene anwenden ließ. Es mag auch ganz unabhängig von unseren Köpfen gültig sein, aber dass wir sein mentales Abbild so umfangreich nutzen, verdankt es sehr wohl einer seit Anbeginn der Zeiten permanenten Laborprüfung, in der es uns nur einfach noch nie enttäuschte.
5. Nun, ich habe nicht explizit gesagt, dass Christen Selbstmordattentäter waren, nur dass ihr Märtyrertum diesem Mechanismus vergleichbar wirkt. Sie waren sicherlich keine Selbstmordattentäter in dem Sinne, dass sie mit ihrem Tod morden wollten. Aber gerade die frühchristlichen Märtyrer suchten den Tod aktiv, durch freitodzielstrebige Provokation und zur Selbstveredelung, ganz im Sinne der “ihr liebt das Leben, wir den Tod”-Logik der modernen Selbstmordattentäter. So etwas wird auch in modernen Gesellschaften nicht geduldet. Ihre Provokation hatte Erfolg, und das Misstrauen gegen sie verselbständigte sich zur Toleranzprüfung und Verwerfung der Gesellschaftsordnung, gegen die sie sich richteten. Ganz die Taktik, mit der auch Selbstmordattentäter gegenüber freiheitlichen Gesellschaften heute verfahren.
@Aleks:
Ich beabsichtige gar keinen verschleierten oder verschleiernden “wahren Hintersinn”, mir geht es nur darum, Fragen und Gedankengebilde abzuwägen, zu rotieren, abzuklopfen und auf den Kopf zu stellen, um zu sehen, was dabei herauskommt. Deine Antwort scheint mir mehr daran interessiert, aus meinem Geschreibsel eine ideologische Persönlichkeitsanalyse zur Durchführung einer ad-hominem-Attacke herzuleiten, die mich von meiner Falschheit überzeugen soll, als die Ideen selbst auf ihre eigentliche Schlüssigkeit oder ihre Prämissen zu befragen.
Der Reihe nach die von dir herausgegriffenen “Beispiele”:
1. Mit der “konstanten Weiterentwicklung der Bezugssysteme” meine ich eben das, dass es kein einheitliches Maß auf Dauer mehr zu geben scheint, jedenfalls nicht auf einer (mit deinen Worten) “Ebene zur Beurteilung des Menschseins”. Historischer Relativismus menschlicher Kategorien, wenn du so willst: Was, wenn die Menschen im Mittelmeerraum 2000 BC noch gar kein dem unseren vergleichbares Konzept von Ich hatten (wie Julian Jaynes mit seinem “The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind” behauptet), an dem sich moralische Maßstäbe wie Freiheit, Wohlergehen oder dergleichen vergleichbar hätten abarbeiten können? Hatten die Bauern im Mittelalter eine Individualität, wie wir sie kennen, mit Namen und Selbstwertgefühl, setzt sich der Individualismus nicht erst mit der Renaissance durch? Was ist das menschliche Selbstverständnis eines Fünfundzwanzigjährigen im Jahr 1970 gegenüber dem eines Fünfundzwanzigjährigen im Jahr 2070 zwischen (spekulieren wir mal) “Realitäts”-gleichberechtigten Virtual-Reality-Universen, Identitätsforks und Mind Backups? Ich halte es für sehr schwierig, hier eine Kontinuität von Menschlichkeitsbeurteilungsmaßstäben aufrecht zu erhalten. Der “Mensch” ist ein identitätspolitischer Begriff großer Variabilität, um den seit Jahrtausenden gefochten wird; wir können stolz sein, gerade mal den Rassismus überwunden zu haben, aber der wird vielleicht ein Klacks sein gegenüber den Herausforderungen an den Begriff, die noch vor der Tür stehen, wenn wir uns erst Konzepten wie “animal uplifting” oder “künstlichen Intelligenzen” zuwenden.
2. Ja, die “Werte”, die ich nannte, existieren nur, soweit es ein Bewusstsein gibt, sie zu aufzustellen, zu erkennen, anzuwenden. Wie sollte es eine Moral ohne eine Intelligenz geben, die zu moralischen Begriffen fähig ist? “Moral” ist nur ein Konstrukt menschlicher Psychologie und Kultur. Ob aus diesem Gedankengang nun der “Geist des Materialismus” “diabolisch” lache oder nicht, ringt mir nur ein Achselzucken ab, ich sehe in dieser Formulierung kein Messer, um der genannten Logik wirksam die Sehnen durchzuschneiden ;)
3. Die Frage, “wie zu leben sei”? Da entgegne ich ganz materialistisch: “Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.” Technologie erschafft überhaupt erst die Mensch-ärgere-dich-nicht-Bretter, auf denen die Spieltheorien der Ethik sich austoben können, und ohne sie sind sie undenkbar. Aristoteles hätte sich seine Fragen nicht stellen können ohne eine Gesellschaft, die ihm diese Spezialisierung gönnt, hätte sie nicht stellen können ohne die grammatikalische Technik seiner Kultur, hätte sie nicht niederschreiben können ohne die Maschine Schrift, und hätte sie vor allem nicht denken können ohne Bezug auf durch Kultur/Technologie geschaffene Freiheiten der Entscheidung und Lebensführung. Vor der Kultur ist nur der Instinkt, und der Instinkt, selbst wo er sich altruistisch zu geben scheint, stellt keine Fragen der Ethik oder Moral.
4. Ich meine Religion, soweit sie “Glauben” promoted, als Gegenentwurf zur Skepsis. Eine Religion, die sich unvoreingenommen mit fortwährender Neugier und Skepsis an die Welt wendet, um dieser mit solcherlei Instrumentarium eine auch immer wieder durch neue Neugier und Skepsis überprüfbare Erkenntnis zu entlocken, wäre demnach keine Religion. Sie wäre Wissenschaft. Ich könnte mir sehr wohl auch die wissenschaftliche Entdeckung eines die Welt geschaffen habenden oder noch immer kontrollierenden höheren Bewusstseins vorstellen, etwa im Sinne eines “huch, wir leben in einer Computersimulation”, ausgelöst durch die Entdeckung merkwürdiger Kompressionsfehler im Kosmos, die sich nur dadurch befriedigend erklären ließen. Aber nicht eine solche wissenschaftliche Methode ist der evolutionäre Vorteil, mit dem sich der Glaube etwa an den christlichen Gott gemeinhin in den Massen verbreitet, sondern psychologische Manipulation wie Schauermärchen vom Höllenfeuer oder tröstende Heilsversprechen vom ewigen Leben im Himmel. Eine Psyche, die inmitten realweltlichen Elends sitzt, der wird zur Balance ihres Haushalts ein solches Trostmittel wahrscheinlich eher gelegen kommen als eine philosophisch vielleicht reizvolle, in der Kürze eines etwa mittelalterlichen Menschenlebens funktional und emotional aber völlig nutzlose Skepsis gegenüber dem Elend. (Letzteres ein Punkt, den Dawkins gerne übersieht in seinem gepflegt empörten Unverständnis gegenüber der Attraktivität von Religion.)
Endlich. Endlich schreibst du es glasklar hin.
Ganz eindeutig startest du mit dem Primat der Naturwissenschaft, mit der Herrschaft von Technologie ueber moralische und ethische Grundsaetze auf einem materialistischen Bodensatz (Punkte 1-3). Dieser Ausgangspunkt ist aber eine ontologische Vorfestlegung, die du nicht begruendet hast und die du nie in Frage stellst. Ganz eindeutig definierst du dir das, was du widerlegen willst, erst so zurecht, dass es dann keine Kunst mehr ist, sie zu widerlegen (Punkt 4). Um behaupten zu koennen, Religion sei kein Instrument der Erkenntnis, sondern eines der Verdummung, definierst zu zunaechst, dass es kein Instrument der Erkennntnis ist, auf der Basis einer Mem-Theorie, an der seltsamerweise kein Zweifel moeglich scheint.
Und dann das hier: “mir geht es nur darum, Fragen und Gedankengebilde abzuwägen, zu rotieren, abzuklopfen und auf den Kopf zu stellen”
Nein – ganz offenbar geht es darum nicht, wenigstens nicht um das “auf den Kopf stellen”, denn du faengst damit an, alles so einzurichten, damit am Ende das Gewollte herauskommt. Aergerlich ist nicht dein dogmatischer Unterbau, sondern die Sosse aus Toleranz, mit der er uebergossen wird. Ich stehe kurz davor, einen Nazivergleich einzubauen, damit das alles ein Ende hat.
Passend dazu war die Captcha-Abfrage fuer dieses Posting ‘666’. Hurra!
@Christian
Verzeih, wenn ich nicht auf alle Punkte antworte, es ist ein wenig müßig allmählich, immer wieder dasselbe zu wiederholen.
ad 3.: Das ist eine reine Nominaldefinition nach der Spielregel “Ich lege das begrifflich so fest und du anders” – damit kann man das Gespräch einstellen und jeder wabert in seiner eigenen Wortblase herum und meint etwas anderes.
ad 4.: Allein um Deine These zur Falsifizierbarkeit der Logik formulieren zu können, setzt Du die Gültigkeit etwa des Nichtwiderspruchsprinzips und eine ganze Reihe anderer Axiome voraus. Andernfalls ist Deine These nicht den Speicherplatz wert, den sie hier verbraucht. Ohne Gültigkeit der fundamentalsten Prinzipien können wir jeden Scheiß behaupten und du dürftest nichtmal dagegen argumentieren, weil die Basis jeder Argumentation, nämlich die Logik, ja möglicherweise falsch sein könnte. So what? Bisschen kindisch, finde ich. Tue mir bitte einmal den Gefallen, und beschäftige Dich etwas mit den Klassikern des Empirismus, die haben so etwas nämlich nie behauptet, dafür haben sie einfach zu gut mitgedacht.
ad 5.: Deine Behauptungen sind partiell einfach falsch. Mehr kann man dazu nicht sagen. Beschäftigung mit Geschichte bringt Abhilfe (wenn man seriöse Literatur liest, ich weiß nicht, was Du so liest).
Zu dem, was Du Aleks antwortest, auch noch etwas:
Und zwar zu Punkt 4: Das ist auch wieder eine reine Nominaldefinition. Nach dem Motto: Ich definiere mir Religion jetzt so, wie es mir in den Kram passt. Ok, aber dann hör auf hier zu diskutieren, denn dann redest Du an Deinen Kontrahenden einfach vorbei. Zudem solltest Du auf der jeweiligen Ebene der Argumente bleiben. Wenn jemand Deinen Utilitarismus nicht teilt (was bei Aleks der Fall ist), kannst du ihm nicht wieder mit utilitaristischen Argumenten kommen, denn ihr teilt nichtmal dieselbe Prämissenbasis. Aleks bezog sich auf eine Skepsis, die über jeweilige Nutzen-Relationen hinausgeht, da kannst Du ihm nicht wieder mit Nützlichkeits-Argumenten kommen. Aleks bezog sich auf eine Skepsis, die über nachprüfbares Faktenwissen hinausfragt, da kannst Du ihm nicht wieder kommen mit einer Skepsis, die zu nachprüfbarem Faktenwissen treibt. Er sprach gerade von einer Skepsis, die über derlei “Instrumantarium” hinausreicht.
Allgemeine Bemerkung: Deine Ausführungen, Christian, sind nur so gespickt von weltanschaulich einseitig aufgeladenen Vorurteilen. Sie sind ein Paradebeispiel für tiefsten Dogmatismus (der sich gerne in aus reinen Nominaldefinitionen gezogenen apodiktischen Ist-Sätzen wiederspiegelt: “Moral ist nur…”, “Religion ist…”, ganz abgesehen von den ganzen historischen Postulaten. Die Tatsache, dass dies völlig einseitige Behauptungen sind, und es eine Fülle an gegensätzlichen Ansichten gibt, wird einfach ignoriert). Ich habe mehrfach versucht in diesem Blog, Dich einmal auf Deine Prämissen aufmerksam zu machen, aber sie kehren immer wieder unreflektiert wieder. Es ist nicht einfach, einmal auf den eigenen Standpunkt und seine Voraussetzungen zu reflektieren, aber man sollte es wenigstens versuchen – solange man dies aber nicht versucht, sollte man sich nicht für “kritisch” und “aufgeklärt” halten. Immanuel Kant ging seiner Zeit zu recht gegen genau diese Art des Denkens und Argumentierens vor und hielt dieser Art Dogmatismus seine Aufklärung entgegen (insbesondere übrigens dieser Form des empiristischen Dogmatismus).
Abschließend ein Zitat zum Thema “Skepsis und Fragen über das Faktenwissen hinaus”, und dabei möchte ich es dann bewenden lassen.
“Existence […] appears, not as someting we can take for granted, but as something which should surprise us, awaken us to the utter strangeness of ‘what-is’, call forth our wonder and our thankfulness, arouse our questioning and compel us to try to understand, ‘why is there any Being at all – why not far rather Nothing?’ And that is the whole meaning of metaphysics.
[…] When existence is removed from the list of fundamentals and questions as to its meaning and causes are pronounced meaningless, this is because of the improper extension to philosophy and human thought in general of the criteria of meaning and of truth, the assumptions and the methods which are proper to empirical sciences. Science puts men and existence in brackets. It takes it for granted that there is a world of things and events, and that man observes it. […] It is a condition of the existence of science that man and being be; but science could not be if it called its own conditions in question. Science must take the existence of objects as irreducibly given; and proceed to observe, analyse, measure, correlate them. It must take the fact of knowledge for granted and try to make it as impersonal, objective and anonymous as possible. […] To restore metaphysics is essentially a struggle to prevent man himself from being depersonalized by the methods of impersonal investigation and anonymous verification he has devised from natural science. Metaphysics is part of the DEFENSE OF HUMANISM in an age dominated by the concepts and attitudes which are legitimate and necessary for science and technology but which become dangerous when they are thought to be adequate to explain all that man is and all that man seeks and needs to know.
Hence Metaphysics is the rejection of the omni-competence of the principle of verification, the refusal to leave man and being in brackets, the assertion of the primacy of BEING man over HAVING tools and techniques. When I am faced with a scientific problem, I work on the data in front of me. But when my question bears on being, the position is entirely different. Here the ontological status of the questioner comes into first place. Here we enter into the realm of the meta-problematic, that is to say of mystery. A ‘mystery’ is a problem which calls its own conditions in question: To pose the ontological problem is to question oneself about the whole of being and about one’s own self as a whole.”
(C.B. Daly: Metaphysics and the limits of language, in: Ian Ramsey (ed.), Prospect for Metaphysics, London 1961, 190 – 192).
Ich möchte mich auch nochmal einschalten.
@Aleks:
Es ist ganz nett, wie Du dich zu persönlichen Angriffen hinreißen lässt, in einer Debatte, die dich scheinbar überhaupt nicht interessiert! Geh mal bitte auf Das ein, was hier diskutiert wird. Ist ja ganz nett, dass Ruben dir hier die Hand reicht und das Metaphysische, das Transzendente und das Nicht-empirische Euch mehr begeistert. Aber worum es hier geht ist nicht zuletzt gerade eine technisch-materialistische Weltsicht! Und auf dieser Grundlage wird hier eben der “Nutzen” des “Dunklen Mittelalters” und der Religion und der Philosophie erörtert.
(Der Wink mit dem Nazivergleich ist übrigens absolut inakzeptabel!)
@Ruben
Deine Ausführungen sind von höherem Niveau, keine Frage. Aber diskreditiere dich doch bitte nicht auch durch diesen persönlich beleidigten Ton!
Du bist offenbar belesen, hast Ahnung von der Philosophie des Mittelalters usw. Aber so richtig bringst Du das hier nicht zur Geltung. Erkläre doch Du mal, was Du setzen würdest, um über Religion zu diskutieren. Gehe doch der Argumentation – dem Streit – nicht genau so aus dem Weg, wie Du es Christian vorwirfst! Aleks diskutiert hier z.B. auf einem sehr niedrigen Niveau und trotzdem hat Christian ihm eine wohlformulierte Antwort gegeben, die frei von jedem persönlichen Groll ist!
Der wesentliche Streitpunkt zwischen dir und Christian scheint doch zu sein, dass Christian (offenbar) Technologie und Wissenschaften usw. über alles hebt, während Du nach metaphysischen, nicht-materialistischen Erklärungen (für die Welt oder was auch immer) suchst.
Dazu sei gesagt, dass Christian (meiner Auffassung nach) recht stark von wissenschaftlichen Theorien, wie der Evolutionstheorie, beeinflusst ist und Natürlich(!) sein Weltbild daran reflektiert. Du wirfst ihm vor, nicht die Denker des Früh- und Hochmittelalters zu kennen. Aber kennst Du denn die Evolutionstheorie? So richtig?
Welche Ausführungen sind denn gespickt mit Weltanschaulichen Voruteilen? Etwa der Vorwurf, dass Christen in der Antike zum Märtyrertum neigten? Willst Du das bestreiten? Meinetwegen. Aber dann tus auch! schreib nicht einfach hin, das sei ein Vorurteil! Oder fühlst du dich durch emotionslos gezogene Schlüsse aus historischer Überlieferung in deiner Ehre verletzt? Nichts von dem was Christian anführt, stellt er als endgültiges Postulat in den Raum. Ihr SOLLT ja gerade dagegen argumentieren, ihn widerlegen. Aber dazu müsst ihr mehr sagen, als dass alles falsch ist!
@Christian:
ist das richtig, dass deine Uhr noch auf Winterzeit läuft?
@Ruben, @Aleks:
Ihr müsst mir gar nicht unbedingt beweisen, dass meine Behauptungen/Ansichten/Argumente auf wackeligen Füßen stehen, denn das bestreite ich gar nicht. Dito, dass meine Perspektive eng ist, oder dass alles, was ich schreibe, Vorurteil ist. Denn ich halte ein anderes Schreiben für gar nicht möglich.
Ich hoffe lediglich, meinen Vorurteilen und Perspektiven in dieser Diskussion mehr Flexibilität und Lernfähigkeit angedeihen zu lassen. Deshalb ist es mir auch nicht wichtig, meine Begriffsdefinitionen statisch zu halten. Ich definiere einen Begriff wie “Religion” nicht um, um mittels eines formalen Tricks die Diskussion rückwirkend zu gewinnen; sondern um unter Druck von Gegenpositionen und -argumenten meine Sichtweise ständig anzupassen. (“Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?”) Das ist kein Beharren darauf, dass ich richtig liege, sondern umgekehrt ein Einräumen der Wirksamkeit eurer argumentativen Spitzen.
Meine Neu-Definitionen, meine apodiktischen Sätze usw. sind keine absoluten Wahrheits-Behauptungen. Ich beanspruche für sie nicht, dass sie “kritisch” oder “aufgeklärt” seien. Diese Abhärtung sollen sie im argumentativen Zusammenstoß mit gegenmeinenden Aussagen gewinnen — oder daran zerbrechen. Ich rotze Versuche in den diskursiven Raum, um zu sehen, welche hängenbleiben, wachsen, und welche untergehen, versanden. Das ist meine Grundlage für Evolution der Ideen.
Eine der Sachen, die bei so etwas hoffentlich entsteht, ist eine Ahnung des Prämissenschleims, aus dem sich diese Rotze bildet, und seiner Stärken und Schwächen. Insofern bin ich auch dafür dankbar, wenn ihr meine Prämissen kritisch herauszuarbeiten und mir vorzuhalten versucht. Ich versuche mal durchzugehen, was ihr an Prämissen da kritisierend herausskulpturiert zu haben scheint:
@Aleks:
1. “Ganz eindeutig startest du mit dem Primat der Naturwissenschaft …”, ja, doch, dem kann ich wohl nicht so ganz widersprechen. Ich sehe keine fähigere Grundlage, um mein Umfeld zu erklären, als die Naturwissenschaft, ihre Konzepte von Gesetzen der Physik, der Evolution usw. Das kann man meinetwegen ein Vorurteil schimpfen; aber ich bin gerne bereit, es aufzugeben, wenn man mir überzeugende Beispiele für Phänomene oder Möglichkeiten meines Umfelds gibt, die sich nur mit alternativen Systemen erklären lassen, die sich auch nicht auf eine naturwissenschaftliche Grundlage zurückführen lassen.
2. “… mit der Herrschaft von Technologie ueber moralische und ethische Grundsaetze auf einem materialistischen Bodensatz”. Ich behaupte, dass moralische/ethische Grundsätze resultieren aus einem Fundament von Kultur/Technologie (von Menschenhand/-geist geschaffen; und Kultur ist immer auch das Ergebnis von Technik) in Interaktion mit dem menschlichen Geist/der menschlichen Psyche (erwachsen aus der biologischen Evolution). Einspruch? Ein Wandel der technischen Voraussetzungen bewirkt dann auch einen Wandel der Moral/Ethik. Zum Beispiel schaffen unterschiedliche technische Voraussetzungen unterschiedliche Anordnungen von Zwängen und Knappheiten, die von Moral/Ethik verwaltet werden müssen.
3. “Mem-Theorie”. Den Begriff “Mem” habe ich zumindest in meinen letzten zwei Entgegnungen nicht in den Mund genommen (weiter zurückzuschauen bin ich jetzt zu faul, und ich will auch gar nicht pauschal ausschließen, dass ich ihn vorher angebracht habe, aber wen kümmert das Gestern). Das “Mem” ist tatsächlich ein in seinem Gebrauch sehr problematischer Begriff; ich glaube, er hat sich u.a. in der Variante “Internet-Mem” (siehe meinen re:publica-Vortrag dazu — http://cine.plomlompom.de/archiv/1939/ —) deshalb so gut durchgesetzt, weil er sich hier als Phänomen noch am Leichtesten diskret quantifizieren lässt (man kann ja das Wiederkehren bestimmter diskreter informationeller Einheiten wie Phrasen, Bildern, Klängen usw. hier tatsächlich in ihren Verbreitungen gut abzählen, in ihren Genealogien aufschlüsseln, in ihren Mutationen algorithmisch nachvollziehen), im Gegensatz zu “Religionen”, “Ideen”, “Konzepten” usw. Ich halte ihn in jedem Fall für eine sehr machtvolle Metapher: Dass es kulturelle Entwicklungen gibt, deren Dynamiken sich mindestens äußerlich betrachtet biologisch-evolutionären annähern, kann man sich darauf einigen? Das Konzept des “Mems” erscheint mir so als Versuch der Annäherung an eine Analyse kultureller Dynamiken auch nicht weniger naheliegend und empirisch überprüfbar als das Gros der aus anderen Ecken erwachsenen Kulturtheorien.
4. “du faengst damit an, alles so einzurichten, damit am Ende das Gewollte herauskommt.” Das entspricht nicht meiner Wahrnehmung / meinem Bewusstsein. Ich habe natürlich meine Perspektiven, Vorurteile und Positionen, in die ich die Diskussion einzupassen versuche; anders könnte ich sie ja auch gar nicht nachvollziehen, denn eben dieses Einpassen ist doch eine Grundlage von Kommunikation? Aber erstens möchte ich darauf verweisen, dass es im gesamten Verlauf der Diskussion durchaus schon Punkte gab, wo ich entgegen meiner vermuteten Ausgangsideologie z.B. Ruben eingeräumt habe, dass die geistige Landschaft des Mittelalters ergiebiger sein mag, als ich sie in meiner Eingangspolemik dargestellt habe; oder dir, dass schon kosmologisch betrachtet gegen Ende jeder “Fortschritt” für die Katz sein mag. Zweitens baue ich meine Stellungnahmen bewusst mit genug offenen Einfallstoren in Form etwa von apodiktischen Äußerungen, nicht etwa, um mich gegen Kritik abzusichern, sondern gerade, um Angriffspunkte für Kritik zu bieten. Drittens ist mir “am Ende” das vorher “Gewollte” völlig egal, denn ich spüre keine Verpflichtung, irgendeine Ausgangsbehauptung zu beschützen; schon mein Ausgangstext war offen als Fragekatalog um eine betont in eine spezielle polemische Interpretation zugespitzte Mittelalterzeichnung gekennzeichnet. Gut, ihr diagnostiziert trotzdem unreformierbare Starrheiten in meiner Position, in Form aus meinen Worten deduzierter Prämissen/Ideologie; vielleicht identifiziert ihr dabei tatsächlich Kreise, in denen ich unheilbar laufe, aber die wären dann gerade Ergebnis meiner Blindheit, nicht meines Bemühens, die Diskussion im Sinne eines “Gewollte[n]” gelenkt zu gewinnen.
Einen Nazi-Vergleich zur Erläuterung der “Sosse aus Toleranz” darfst du gerne bringen, hast meine ausdrückliche Genehmigung ;-)
@Ruben:
5. (bei dir 3.) “Ich lege das begrifflich so fest und du anders”. Ich würde den Vorwurf in Bezug auf die Sache mit der “Religion” verstehen, aber ich verstehe nicht die Relevanz in Bezug auf die Ökologie-Frage. Meinst du meine Differenzierung zwischen “Zerstörung” und “Verwandlung”? Ich halte “Verwandlung” der Ökosphäre für einen präziseren Begriff für das, was passiert, als “Zerstörung”, denn selbst, wenn wir hundert Tsar Bombas über den Planeten verteilt hochgehen lassen würden, täte das zwar wahrscheinlich uns, aber nicht der Erde oder auch nur der Evolution des Lebens auf ihr einen Abbruch. Widerspruch?
6. (bei dir 4.) Es geht mir nicht um die Dekonstruktion der Logik, sondern darum, warum sich die Denkweise Logik in den Köpfen festsetzt. Da erscheint mir ein Betrachten etwa der vorzeitlichen Herausbildung des menschlichen Geistes, der Anordnung der ersten Strichreihen auf Zählknochen wie dem “Lebombo Bone” oder “Ishango Bone”, der ersten Externalisierungen von Denken in formale Systeme und Maschinen angebrachter als metaphysische Versuche, die Logik aus sich selbst zu begründen. Dass wir überhaupt die Logik als Denkweise beherrschen, das ist vielleicht das viel aufregendere Phänomen.
7. (bei dir 5.) Meine frischsten Lektüren in Bezug auf diese Periode sind diverse Kapitel aus “Ideas: A History from Fire to Freud” von Peter Watson (extrem reichlich verfußnotet), “Europe: A History” von Norman Davies (zugegebenermaßen ein anerkannt historiographisch eigensinniges Werk) und der Wikipedia-Artikel “Persecution of early Christians in the Roman Empire”. Den Davies hab ich leider verliehen, aber mit Zitaten und Quellen-Angaben aus den anderen beiden kann ich dich gerne bei Aufforderung ausstatten. Und umgekehrt, wo du ja konkrete Falschheiten zu sehen meinst: Welche Teile meiner Behauptungen sind deines Erachtens falsch, und aufgrund welcher Quellen? Du scheinst gerne abstrakt die Autorität bestimmter Autoren und Text-Kanon-Lektüren zu beschwören, die deine Position untermauern bzw. meine widerlegen sollen; mir wären direkte Verlinkungen genau der belegenden Stellen bzw. Nennung konkreter online nachschlagbarer Vorkommnisse lieber. (Zugegeben, dasselbe sollte dann auch für mich gelten, so ich Faktenbehauptungen anstelle.)
8. (bei dir Aleks’ 4.) Ziel meiner Entgegnung war es nicht, Aleks’ als “Kontrahent” seine Darstellung zu widerlegen. Ich habe mir einfach herausgegriffen, was ich interessant fand; und das war der von ihm darin postulierte Religionsbegriff, der meiner Vorstellung von Religion widersprach; also versuchte ich, meine Idee des Begriffs auszuformulieren. Wenn Aleks’ Definition von Religion meiner aufgestellten Definition von Wissenschaft-statt-Religion entspricht, dann würde ich mir glatt überlegen, Aleks’ Religion beizutreten. Mein Begriff von Religion dagegen ist das, was du wahrscheinlich mit “Utilitarismus” meinst, der Glaube, der sich an die Psyche anbiedert, um die Skepsis auszuschalten. Vielleicht wäre ein besserer Begriff noch einfach “[blinder?] Glaube” statt “Religion”.
9. “Allgemeine Bemerkung”: Hierzu habe ich hoffentlich schon in den Eingangsbemerkungen dieses Kommentars Einiges gesagt. Du wirfst meinen Ausführungen “tiefsten Dogmatismus” vor und dass meine Prämissen stets von Neuem “unreflektiert” wiederkehren. Mir aber fehlen die Reflektions-Gegenstände, die die Prämissen zu Fall brächten.
10. C.B.-Daly-Zitat: Interessanter Selbstschutz-Reflex einer philosophischen Disziplin gegenüber der wissenschaftlichen Methode, die eigene Unangreifbarkeit als moralische Notwendigkeit für den Schutz des Menschlichen zu postulieren. Vielleicht stimmt das sogar, vielleicht bauen Wissenschaft und Technologie tatsächlich einen bestimmten Begriff des Menschlichen ab. Aber es scheint mir naheliegend, dass auch der nur ursprünglich ein Konstrukt eben der selben Kultur (“HAVING tools and techniques”) wäre, die ihn gegeben und dann wieder nehmen würde. Überhaupt, dieses “HAVING tools and techniques” ist vielleicht die Voraussetzung dieses “BEING man”. War nicht die Werkzeug-fähige Hand zuerst da, und erst daraus resultierte der menschliche Geist? Die Werkzeugfähigkeit als Grundlage der Entwicklung des menschlichen Geistes ist eine These, die glaubich nicht all zu außerirdisch den derzeitigen wissenschaftlichen Theorien der Entstehung des Menschen ist.
——-
P.S.: Wenn ihr das Gefühl habt, dass sich die Diskussion nur noch intellektuell unproduktiv im Kreis dreht, fühlt euch frei, mit der Teilnahme abzubrechen. Hier gibt es ja nichts zu gewinnen außer eben bestenfalls intellektueller Produktivität ;-)
@Erik: Oh, ich find eigentlich, dass sowohl Ruben als auch Aleks auf sehr hohem Niveau argumentieren. Und dass wir aus teils sehr unterschiedlichen Perspektiven heraus argumentieren, ist ja gerade das Meta-Thema, an dem wir uns besonders herausfordernd abstrampeln ;-) Fände ich die Diskussion so unergiebig, würde ich nicht so viel Zeit in das Durchdenken und Formulieren von Antworten investieren ;)
Dein Zitat zur Naturwissenschaft: “Ich sehe keine fähigere Grundlage, um mein Umfeld zu erklären, als die Naturwissenschaft, ihre Konzepte von Gesetzen der Physik, der Evolution usw.”
Vielleicht sollte ich es nochmal klar aufschreiben, was daran seltsam bzw. falsch ist. Natuerlich habe ich nichts gegen Naturwissenschaft. Sie ist ein sehr befriedigendes Spielzeug und funktioniert hervorragend, solange man sie nicht ueberschaetzt. Aber sie ist nicht allmaechtig, und die von dir immer wieder behauptetete Omnipotenz von Naturwissenschaft, z.B. der Versuch, damit Moral und Kultur und alles zu erklaeren, ist riskant.
Die Gruende stehen viel zu gut in dem Daly-Zitat, als das ich sie irgendwie besser wiedergeben koennte. Naturwissenschaft funktioniert nur auf einem klar abgegrenzten Spielfeld, das von Annahmen ausgeht, die ausserhalb der Erkenntnisfaehigkeit von Naturwissenschaft liegen, z.B. eben die Existenz von Materie selbst. Die Methodik von Naturwissenschaft wiederum setzt das Funktionieren von Logik voraus und das Vorhandensein von vollkommen freien mentalen Entscheidungen, die nicht durch praedeterminierte Molekuelverschaltungen im Hirn zustandenkommen. Versucht man diese Voraussetzungen wiederum mit Naturwissenschaft zu erklaeren, geraet man in einen Zirkelschluss, der die Fundamente dessen aushoehlt, was man anfangs fuer so allmaechtig hielt.
Und schliesslich ist Naturwissenschaft nicht allein Fakten und Experiment, sondern beinhaltet Elemente, die nichts mit Empirie zu tun haben, Ideen und Theorien zum Beispiel. Wo kommen Theorien her? Verabsolutiert man Naturwissenschaft, bzw. argumentiert man rein materialistisch, dann passiert folgendes: Theorien entstehen in den Koepfen von Naturwissenschaftlern, und zwar durch Wechselwirkungen zwischen Molekuelen, hervorgerufen durch Mechanismen, die diese Theorien dann erklaeren.
Klar geworden? Die Mechanismen der Natur selbst wuerden die Theorien erzeugen, die die Mechanismen erklaeren, was die gesamte Aussagekraft der Theorie in Abrede stellt. Es ist nicht einfach, Naturwissenschaft zu betreiben auf der Grundlage eines materialistischen Weltbildes, jedenfalls, wenn man sie nicht als reine akademische Fleissaufgabe ansieht.
Diese Art Gedankenfuehrung ist es, die mich dazu bringt, das Primat der Naturwissenschaft und das Primat von Materie in Abrede zu stellen. Naturwissenschaft verliert dadurch nicht, im Gegenteil. Es beleidigt mich, wenn mein Tun als Wissenschaftler auf das Zusammenstellen von falsifizierbaren Fakten reduziert wird. Ich bin kein Briefmarkensammler, sondern Wahrheitssucher.
Naturwissenschaft auf sich allein gestellt betreibt Autokannibalismus: Sie wird sich selbst aufessen und am Ende bleibt nichts verwertbares uebrig. Deshalb kann es durchaus sein, dass unser Zeitalter, naturwissenschaftlich jedem anderen weit ueberlegen, erkenntnistheoretisch eher unterentwickelt ist, weil wir zunehmend die Kontrolle ueber unser Werkzeug verlieren. Aber bestimmt brechen bald wieder mittelalterliche Zeiten an.
Soviel als Plaedoyer zur Naturwissenschaft.
ERSAUFEN IN IHREM EIGENEN BLUT! ERSAUFEN!
@Christian:
ad 6.: Du verwechselst Genese und Geltung. Die Genese der Logik, also wie wir dazu kommen und wie sich das evolutionär entwickelt hat, ist eine andere Frage als die nach ihrer Geltung. Aus der Erklärung der Entstehung von Denkschemata folgt nicht die Begründung ihrer Gültigkeit. Zudem musst Du die Gültigkeit der Denkschemata bei der Erklärung ihrer Entstehung bereits voraussetzen, da sie strukturelle Bestandteile der Erklärung sind; jede Theorie setzt Logik voraus, sonst handelt es sich nur um Dadaismus.
Es handelt sich um dasselbe Phänomen bei der Moral. Die Erklärung der evolutionären und kulturellen Entstehung von Moral sagt nichts über die objektive Geltung moralischer Forderungen. Aus naturwissenschaftlichen Fakten lassen sich nicht analytisch moralische Geltungsansprüche oder ihre Bestreitung folgern. In der Fachliteratur ist diese Art von Fehlschluß als “naturalistic fallacy” bekannt.
Die entscheidende Frage ist nicht, wie sich unsere Denk- und Erkenntnisschemata entwickelt haben, sondern warum sie überhaupt objektiv sind. Und da muss ich wieder meinen geliebten Immanuel Kant bringen, für den ein Markstein der Aufklärung die präzise Unterscheidung zwischen der Frage nach der Entstehung (“quid facti”) und der Frage nach der Geltung (“quid iuris”) unserer Verstandesschemata war.
An dieser Sache sieht man sehr plastisch, worum es mir geht: Um retorsive Fragestellungen, um die Problematisierung der Voraussetzungen des Standpunktes. Man kann die Voraussetzungen des Standpunktes nicht wieder mit dem Standpunkt selbst rechtfertigen. Das scheinst Du mir aber fortlaufend zu tun. Wenn ich (oder wir) beispielshalber die Prämisse kritisieren, dass Du alles auf Naturwissenschaften reduzierst, kommt von Dir ein naturwissenschaftliches Argument dafür. Das geht nicht. Du musst schon mitziehen auf die Meta-Ebene und von dort aus über Deinen Standpunkt reflektieren.
Desweiteren glaube ich auch, dass Du mein Zitat von Daly nicht so richtig verstanden hast. Es geht dort nicht um Selbstschutz und Unangreifbarkeit eines philosophischen Standpunktes. Sondern es geht um den Selbstschutz und die Unangreifbarkeit genau Deines Standpunktes. Das Zitat ist ein open-mind-Pladoyer, das die empiristische Verkürzung des Weltbildes (“man in brackets”) in Frage stellt und einfach auf das Phänomen verweist, dass der Mensch darüber hinaus fragt und man dies ernst zu nehmen hat. Es geht nicht an, dies mit empiristischen Dogmen abzuschmettern und gegenzuhalten, man müsse erst aufweisen, dass man die Phänomene auch anders als naturwissenschaftlich erklären könne. – Denn genau darum geht es nicht, ob man irgendetwas auch anders erklären kann. Es geht hier nicht um Konkurrenz zur Naturwissenschaft, sondern um eine dogmatische Verkürzung der Sichtweisen, die Einklammerung der Weltsicht (“being in brackets”). Ich bestreite mit diesem Zitat Deine Entgegensetzung von Wissenschaft und Religion. Ich halte dagegen, dass die menschliche Vernuft eine wesentlich größere Kapazität hat als die genannte Einklammerung festlegen will.
Die Fragen des Menschen, die über das naturwissenschaftliche Weltbild hinaus weisen, mit naturwissenschaftlichen Argumenten abweisen zu wollen, das ist meines Erachtens schon eine sehr heftige Form von mentalem Chauvinismus. Wenn man sagt, Fragen und Antworten über den naturwissenschaftlichen Bereich hinaus seien unvernünftig und einem richtigen Denken nicht gemäß und man müsse sich erstmal dafür rechtfertigen, dann ist das einfach nichts anderes als das Aussprechen von Denkverboten. Das Phänomen des Menschen und seiner Vernunft ist viel weiter und universaler als all die vorgenommenen Einklammerungen zulassen. In diesem Sinne geht es um nichts weniger als eine defense of humanism.
Open your mind.
Es wurde nach Beispielen für Meta-Empirisches gefragt. Hier ein Beispiel für ein nicht-empirisches Objekt:
Die Welt als Ganze. Die Totalität aller Wirklichkeit ist nichts, was uns empirisch gegeben wäre, denn die Empirie registriert nur endlich viele Einzeldaten, nie das Universum und die Wirklichkeit als Ganzes.
Die Totalität der Wirklichkeit ist uns nur im reinen Denken gegeben. Und die Totalität der Wirklichkeit ist nicht einfach ein Hirngespinst, etwas, das wir uns nur zusammengedacht haben, etwas, das wir nur aus unseren endlich vielen Einzeldaten hinaus-extrapolieren. Nur weil wir lediglich endlich viele Einzeldaten registrieren können, wird kein seriöser Mensch auf den Gedanken kommen, der Totalität der Wirklichkeit die Existenz abzusprechen oder sie für eine reine Fiktion unseres Denkens zu halten.
Die Gesamtheit der Wirklichkeit, das All, ist kein empirisches Objekt. Empirische Objekte gibt es für uns nur innerhalb der Gesamtheit der Wirklichkeit. Wir haben hier den krassen Fall eines meta-empirischen “Objekts” vor uns liegen, das Gegenstand vernünftiger wissenschaftlicher Aussagen sein kann.
Noch radikaler gesagt: Die Gesamtheit der Wirklichkeit, die echte Totalität, ist gar kein Objekt, das uns gegenüberstünde. Sondern wir sind mit unserem Denken Bestandteil davon. Wir sind mittendrin. Das ist das, was die klassische Philosophie mit “Sein” gemeint hat. Und das ist das, wovon der Text von Daly spricht. Mit dem Sein als solchen ist uns eine meta-empirische Realität “gegeben”. Es handelt sich quasi um eine Denk-Erfahrung, die nicht empirisch ist, und die dennoch aller Vernunft inhärent ist, die nicht außerhalb des vernünftigen Denkens stehen kann, da das Denken selbst ein Teil davon ist.
Es ist schon so lange her, dass ich die Sprache der Geisteswissenschaftler verstanden habe. Lässt sich dieses Beispiel wohl auch in anderen Worten ausdrücken?
Und weil es gar so schön war, noch ein Zitat von Daly, aus demselben Artikel, zum Thema ‘being’, ‘knowlege’ und ‘the meta-empirical’. Vielleicht auch ein Augenöffner.
“First, there is the error of thinking that the ‘being’ lies beyond things. In truth, it is in things, it IS things […]. With this we group the corresponding error of thinking that te self lies beyond knowlege. In truth it is IN knowlege; but we do not notice it, becaus the self is knowing, not a thing known, is experiencing, not a datum of experience. Empirical psychology […] always misses the Ego, seeing only mental states. Secondly, there is the error of thinking that knowledge must be clear, distinct, final, leaving its solved problems behind like milestones in its march to ever new discoveries. But knowing is not all or nothing; it has an open texture […].
Knowing cannot be defined, classified or understood, any more than being can be defined, classified or understood. You cannot classify ‘knowing’ because the word ‘knowing’ has the logically blaffing quality that, unless what it means were the case, it could not exist as a word nor could any other word thought or thing exist. […] This is what the scholastics meant by saying that being [and knowledge] is not a genus but is transcendental […]. You cannot, therefore, describe knowing adequately in language, for no term of language can be or have meaning unless knowing is already there. Yet we do know much about knowing and we are somehow describing it when we say that it is not like any empirical occurrence or object or whatever. There is some knowledge of knowing involved in all knowledge of things; but the exploration of knowledge lies beyond our knowledge. As Wittgenstein said, ‘The metaphysical subject [is] the limit of the world’.
[…] there is a mystery IN all knowlegde and all being; there is a ‘beyond-experience’ in all experience, an ‘outside-language’ in all language; and experience is not adequately described unless this meta-empirical in it is recognized. When we find that we ‘run [our] heads up against the limits of language’, we should not say that there is something beyond ‘ordinary’ language that we could know in ‘extraordinary’ language or non-linguistically. Nor, on the other hand, should we say that there is ‘nothing beyond’ ordinary language in the sense that empirical concepts and terms describe without remainder all that there is. What we sould say is that there is something IN ordinary language which is not ordinary and not expressible in empirical terms. But the meta-empirical is real. We know it. We are it.
It is not just inexpressible, the mystical. We can become progressively more aware of the implications of its inexpressibility. It is much to know that there is that in which we cannot describe or understand. It is to know something about it when we say that it is not an object or a body, not-material, not-empirical, nor empirically limited. To be aware of limits is to think and to know and to be beyond those limits. […] If my empirical knowledge forces me to ask questions which cannot be answered in empirical terms, then I know that empirical knowledge is not adequate to the reality which I am. But to know that knowledge is inadequate is a valid and a most important kind of knowledge. It is a perpetual invitation to deeper reflection; but also awareness that reflection will never come to an end of what there is to know.
[…] There are not just problems which we solve, but realities which we are. […] It is something we shall be solving, by living it, realizing it, becoming it, until we die. If we could give a ‘scientific explanation’ of morality, it would cease to be morality. If we could give a cybernetic account of thinking, what we would have explained would not be thinking. Gilbert Ryle, near the end of ‘The Concept of Mind’, remarks that philosophers may yet come to recognize that man perhaps is, after all, a man. But this is not, as he seems to suggest, the end, but the beginning of philosophy. To resist all pretences to explain man in terms of non-human; to strive for ever deeper realization of the human; but to know that there is always more to know about man that can be known, that is the task of metaphysics.”
(C.B. Daly: Metaphysics and the limits of language, in: Ian Ramsey (ed.), Prospect for Metaphysics, London 1961, 195 – 200).
@Kathrin:
Ich bin kein Geisteswissenschaftler.
Einfach ausgedrückt, was ich sagte: Die Gesamtheit der Wirklichkeit (also schlichtweg alles, was es gibt – das Universum als Ganzes oder das Sein als Ganzes) ist kein empirischer Gegenstand. Man kann es nicht beobachten, man kann keine Experimente damit machen, man kann nur Bestandteile davon beobachten und mit Bestandteilen davon experimentieren, und zwar von einem Standpunkt innerhalb des Universums selbst.
Dennoch können wir uns auf die Gesamtheit von allem beziehen. Aber nur mental. Die Gesamtheit von allem, was existiert (das Universum als Ganzes, d.h. als Totalität und nicht nur Ausschnitte davon) ist uns nur theoretisch gegeben, nicht empirisch. – Aber nur weil es uns nicht als experimenteller Gegenstand vor der Nase liegt, würde niemand auf die Idee kommen, das Universum als Hirngespinst abzutun und die Möglichkeit wissenschaftlicher Aussagen darüber zu leugnen.
Nur darum ging es mir: Die Totalität von allem ist etwas Meta-Empirisches, das definitiv existiert und das für uns auf meta-empirische Weise zugänglich ist.
Sehr interessant hier! :) Auch wenn es mir nicht reicht, um was Kreatives bei zu tragen, dennoch ein kleines Feedback.
@Ruben
Danke für Deine Texte. Ich glaube, die bringen mich weiter – zumindest, nachdem ich die Hälfte meines restlichen Lebens darüber meditiert habe. Hoffentlich. :)
@Christian
An Rubens “allgemeinen Bemerkungen” ist schon was dran.
Vermutlich lese ich Deine Texte so gerne, weil unsere Synapsen ähnlich frech in die Gegend feuern, die abstrusesten Thesen aufstellen und auch beträchtlichen Ausschuss produzieren. Jedenfalls kann ich Deine Bilder prima verstehen, weil mein Hirn wohl ähnlich verdrahtet ist.
Ich wurde auch darauf hin gewiesen, dass meine Argumentation zu tiefst dogmatisch sein kann und sich manchmal im Kreise dreht, sich wiederholt statt auf das Gegenüber ein zu gehen. Das Ding mit den apodiktischen Sätzen kommt mir nur zu bekannt vor.
Ich weiss, das alles ist nichts handfestes und wenig hilfreich – ich blick’ da auch noch nicht durch, aber ich ahne, dass da was ist. Genau hinschauen ist angesagt.
Die Gegenstände, um diese Haltung zu reflektieren, fehlen vermutlich deshalb, weil es diese Gegenstände gar nicht geben kann. Als wäre diese Haltung eine Totalität, von der Ruben spricht. Und diese ist erst zu erkennen, wenn man das eigene Argumentations-/Definitionsschema verlässt, mit dem man wiederum versucht, diese Totalität zu erfassen. Reine Logik hilft da nicht mehr weiter, leider. Mir hilft Meditation, je nach dem nicht-denken oder konzentriertes Denken.
@Topic
Doch noch was: Was mich in diesem Zusammenhang stimuliert, ist das müssige was-wäre-wenn es die Christen geschafft hätten, sich mit den Moslems akademisch zusammen zu tun statt zu Kreuze zu ziehen. Vermutlich würden wir dann tatsächlich heute die Sterne bereisen? Aber ein dunkles Zeitalter verursacht wohl eher Durst nach Fanatismus wie nach Aufklärung.
Um meiner ganzen scharfen Kritik vielleicht noch etwas Positives anzuhängen:
Selbstverständlich ist es unerläßlich, was die Naturwissenschaften zur Erklärung der Welt beitragen. Es geht mir nicht um Konkurrenz, ich gehöre nicht zu jenen Idioten wie den Kreationisten, die mit weltanschaulich aufgeladenen Thesen im Bereich der Naturwissenschaften herumwildern wollen.
Worum es mir geht, ist: Eine naturwissenschaftliche Theorie gerät m.E. in eine petitio principii, wenn sie ihre eigenen Voraussetzungen mit ihren eigenen Methoden erklären will. Jede naturwissenschaftliche Theorie setzt einen Theorierahmen voraus (eine Logik, ein conceptual framework und eine Sprache mit ihrer ganzen Syntax und Semantik). Die Theorie kann vielleicht die Entstehung ihrer Voraussetzungen erklären, wie die Evolutionstheorie die Entstehung logischer Denkgesetze.
Aber eine Erklärung der Entstehung von Denkgesetzen ist nicht die Erklärung ihrer Wirklichkeitsgeltung, letzteres ist ein second-order-problem. Die Wirklichkeitsgeltung unserer fundamentalen Denkgesetze muss ich voraussetzen, wenn meine Theorie auch nur irgendwas mit Wirklichkeit zu tun haben soll. D.h. ich muss die Semantik der logischen Strukturen geklärt haben.
Eine positive Erklärung der Wirklichkeitsgeltung der fundamentalen Denkgesetze sieht so aus: Unser Denken existiert. Seine fundamentalen Strukturen sind also Existenzstrukturen. Existenz ist ‘unbounded’, nicht beschränkt auf unser Denken, sondern die Tiefendimension von allem. Unsere rationalen Denkstrukturen sind also, da sie Existenzstrukturen sind, selbst ‘unbounded’ und sind zugleich Strukturen der Objekte unseres Erkennens. Geschwollen ausgedrückt: Aufgrund der ‘unboundedness of being’ koinzidieren die Strukturen unserer Rationalität mit den Strukturen der objektiven Dimension der Wirklichkeit.
Das ist eine astreine seinstheoretische Erklärung der Geltung der rationalen Denkstrukturen. Ich verstehe nicht, was daran so schlimm und so pfui sein soll.
In der Erkenntnistheorie/ Wissenschaftstheorie ist “Wissenschaft” ein System zur Schaffung intersubjektiv anerkannten Wissens. (banal: Wissenschaft ist das was Wissen schafft) “Wissen ist demnach nur etwas, worauf man sich einigt, nicht “Wahrheit”! Dies gilt für Naturwissenschaftliche Gesetzte ebenso, wie für Geisteswissenschaftliche Konstrukte.
Dabei fallen zur Erfassung der Wirklichkeit zwei Möglichkeiten ins Auge:
1. der Induktivismus – also der Schluss aus den Tatsachen selbst auf die Erkenntnis
2. der Deduktivismus – der Schluss aus schon vorhandenen “Erkenntnissen”/ Annahmen auf die Tatsachen (anders: man erkennt nur das, was man schon irgendwie kennt)
Der Induktivismus ist im Grunde nicht möglich. Wenn wir etwas vor uns liegen haben – zum Beispiel ein außerirdisches Artefakt, das keiner uns bekannten Bauart ähnelt – dann können wir lange raten. Aber wir werden AUS der Tatsache selbst nicht auf die Funktion schließen.
Ideen und Theorien sind tatsächlich immer das Zusammenwirken von Vorwissen und Spekulationen. Auch wenn diese Prozesse einem nicht immer bewusst sind. “Einer inneren Eingebung folgend …” ist immer ein Zeichen für deduktives Vorgehen.
Ich weiß: die Frage, die sich aufzwingt ist, wie denn dann die ersten Annahmen gebildet werden. Das ist genauso spannend, wie die Frage nach dem Beginn der Evolution. Aber darum geht es nicht. Wir befinden uns nunmal (offenbar) in einem evolutionären Prozess.
Und die Evolution (ich spreche jetzt von geistiger Evolution, nicht von biologischer) wird von der Wirklichkeit durch die Zeit gezogen. Sie bewegt sich nicht zielgerichtet nach vorne sondern mit dem Blick zurück! Denkmuster, Verhaltensweisen, Normen und Werte, die in der näheren Vergangenheit erfolgreich waren und dazu einen gewissen Überlebenswert bewiesen haben, werden dann auch in der Gegenwart so ausgeübt – ungeachtet, ob sie diesesmal auch erfolgreich sein werden. Damit will ich nur darauf hinweisen, dass die Evolution keine “Meme” oder “Gene” schafft, die SICH an die bestehende Natur anpassen, sondern lediglich an die kürzlich vergangene Natur (die bei ihrer Entstehung existierte) angepasst sind.
Warum erzähle ich das? Weil das ein wunderbares Beispiel für ständig beobachtbare Phänomene (auch im Alltag) ist, das mit formallogischer Hypothesenbildung beschrieben werden kann. Nach dem Schema: Wenn Situation A mit Faktor B zusammentrift, und ich bei Faktor B immer dasselbe Verhalten zeige, dann werde ich auch in Situation A total dasselbe Verhalten zeigen. Könnt Ihr ja mal beobachten. Ist erstaunlich, wie man immer wieder (beinahe sklavisch) denselben Mustern folgt. Ich rede hier von Mustern. Diese Muster (so und auch in anderer Form) sind meine Auffassung von Memen.
@Ruben:
Wissenschaftstheoretisch ist die Klärung der Konstruktion von Werten und Normen viel wichtiger, als die Frage nach ihrer Gültigkeit! Nur weil ich mich diesmal tatsächlich wieder so verhalten habe, heißt das nicht, dass diese Theorie gültig ist. Das ist doch im Grunde dein Kritikpunkt, oder?
Werte und Normen sind nie letztgültig! Das ist ja das Problem mit der sich zum Beispiel Erziehungwissenschaftler herumschlagen müssen! Wie konstruiere ich Werte und Normen für die Erziehung von Menschen?
Zur Veranschaulichung des Problems möchte ich das Münchhausen-Trilemma anführen:
a) der infinite Regress: die unendliche Begründung einer Norm mit immer noch einem Grund, wieso etwas ist (immer weiterfragen: warum? warum? warum? …)
b) der Zirkelschluss: die Begründung einer Sache mit sich selbst (berühmter Zirkel des Biologen und Nobelpreisträgers Konrad Lorenz: Tiere sind aggressiv, um sich fortzupflanzen. Tiere pflanzen sich fort, weil sie aggressiv sind.)
c) der dogmatische Abbruch: ein Grund wird als gegeben angenommen und unveränderlich als letztgültig festgelegt (z.B. “Gott”)
Wie kommt man da jetzt heraus, wenn man seine Kinder erziehen will? Die beste mir bekannte Lösung ist die Setzung von Grundnormen, von denen man ausgeht und sieht, wie weit man damit kommt. Wenn irgendwo Probleme auftauchen gehe ich zurück und überprüfe die Norm – so entgeht man dogmatischen Setzungen. Wie mache ich das? Das wichtigste ist die Konsistenz! Normen müssen konsistent untereinander sein, um auch zu funktionieren. Bei unveränderlichen Regeln oder willkürlichen Befehlen werden irgendwo irgendwann Widersprüche auftreten, die dann ungelöst bleiben. Mit dieser Methode hier, kann ich die Lage neu bewerten und weiterentwickeln. Die Überprüfung von Grundnormen – das ist, was ich unter Fortschritt verstehe.
Da frage ich nicht nach universeller Gültigkeit! Ich weiß vielmehr, dass das nur eine vorübergehende Lösung ist, bis eine weiter Anpassung nötig ist – weil ja alles , wie man so schön sagt, im Fluss ist. Und diese Weiterentwicklung kann schon ganz konkret durch Technologien und daraus resultierenden sozialen Verschiebungen erfolgen! Wichtig ist hier der kulturelle Konsens. Was in der Kultur gerade (einigermaßen) konsistent ist, wird zu ihrem Konsens (Wie zum Beispiel in muslimischen Ländern die Diskriminierung der Frauen und in westlichen Ländern die Diskriminierung von Alten). “Richtig” ist in diesem Zusammenhang das, was im Konsens liegt, und “falsch”, das was außerhalb liegt.
Worauf ich hinaus will ist, dass Wissenschaft hier bitte nicht nur auf Naturwissenschaft reduziert werden sollte! Ich sehe ein, dass Naturwissenschaftler wenig erkenntnistheoretisches Verständnis haben, aber Geisteswissenschaftler beschäftigen sich durchaus mit diesen Problemen! Wissenschaft ist eben nicht rein positivistisch, wie Aleks es so schön behauptet hat (“Zusammenstellen falzifizierbarer Fakten”). Es geht um die Konstruktion, Konsolidierung und Korrektur von ganzen Systemen theoretischer Konstrukte (geisteswiss.) und Gesetze (naturwiss.). Die Erkenntnistheorei und die wissenschaftstheorie spielen da heute eine wichtige Rolle mit, wenn man sich z.B. nur mal den ganzen Bereich der Pädagogik ansieht.
Konrad Lorenz war ja Nazi, wie ihr sicher wisst.
@Erik:
Ich sprach jetzt zuletzt nicht direkt von der Gültigkeit Normen und Werten im ethischen Sinn, sondern von der Gültigkeit logischer Gesetze und Folgerungsbeziehungen (und hier vielleicht von einer minimalen Menge an Theoremen, wie etwa das Nichtwiderspruchsprinzip, das Prinzip der Kohärenz, das Hempel-Oppenheim-Schema, verschiedene basale Schlußregeln wie modus ponens, modus tollens, Substitutionsgesetze, usw., natürlich auch klassenlogische Theoreme…). Aber die Frage gilt auch für ethische Prinzipien.
Worauf ich hinaus wollte, ist: Die Klärung der Konstruktion dieser fundamentalen Theoreme setzt sie wieder voraus. Denn eine valide Erklärung beinhaltet basalste logische Regeln. Sobald Du Folgerungen anstellst oder auch nur simpelste Konjunktionen und Disjunktionen verknüpfst, dann benutzt du logische Regeln. Ich wüsste nicht, wie du dich anders überhaupt vernünftig artikulieren willst. Daher ist es mir nicht nachvollziehbar, wieso die Erklärung der Konstruktion der Theoreme wichtiger sein soll als die Frage nach ihrer Gültigkeit – du setzt ihre Gültigkeit in der Klärung der Konstruktion bereits voraus. Andernfalls brauchst du gar nicht erst anfangen, irgendwas zu klären, wenn du die Gültigkeit einfachster Denkgesetze für irrelevant hälst.
Was das Münchhausen-Trilemma angeht, so setzt es voraus, dass ‘Begründung’ immer die Ableitung einer Konklusion aus von ihr verschiedenen Prämissen bedeutet. Das ist aber überhaupt nicht gemeint mit den klassischen Vorstellungen der Gültigkeit der obersten logischen Prinzipien. Die obersten Prinzipien begründen sich selbst. Z.B. das Nichtwiderspruchsprinzip trägt seine Begründung in sich – man kann das Nichtwiderspruchsprinzip nicht bestreiten, ohne es wieder vorauszusetzen. Das Prinzip ‘Nicht-(A und Nicht-A)’ wendest Du nämlich an, wenn Du das Prinzip ‘Nicht-(A und Nicht-A)’ bestreiten willst, denn Du sagst, das Prinzip gilt nicht, sondern sein kontradiktorisches Gegenteil – Du setzt voraus, dass nicht das Prinzip und sein kontradiktorisches Gegenteil gleichzeitig gelten können. Andernfalls wäre Deine Bestreitung des Prinzips völlig belanglos.
Zudem verrennt sich das Münchhausen-Trilemma in einem Selbstwiderspruch. Denn es will ein Argument sein und setzt damit notwendige Präsuppositionen des Argumentierens voraus, die von den Teilnehmern der Diskussion akzeptiert sein müssen. Damit das Münchhausen-Trilemma ein Argument ist, muss es voraussetzen, dass die Grammatik und Semantik der verwendeten Sprache sinnvoll ist und dass gewisse logische Regeln Gültigkeit haben (z.B. auch das Nichtwiderspruchsprinzip), sonst ist das Trilemma hinfällig. Es gilt allgemein, dass man immer schon einen Theorierahmen vorausgesetzt und akzeptiert hat, wenn man überhaupt irgendwelche Aussagen aufstellt.
Im Grunde sagst Du ja nichts anderes, wenn Du meinst, dass Normen auf Konsistenz geprüft werden müssen anstatt sie als unveränderlich hinzunehmen. Aber damit setzt Du voraus, dass Konsistenz ein unveränderliches und wirklichkeitsrelevantes Kriterium für die Beurteilung der Normen ist. Du setzt voraus, dass das Nichtwiderspruchsprinzip gilt, und zwar universell (anders kannst Du gar nicht, wie oben gezeigt, denn seine Bestreitung setzt das Prinzip selbst voraus).
Mein Punkt war jetzt der: Wieso verdammt nochmal sind die immer schon vorausgesetzten fumdamentalen Prinzipien allen Denkens und insbesondere allen kritischen Denkens überhaupt relevant? Warum kommen wir nicht um sie herum? Warum sind sie wirklichkeitstauglich, warum haben sie Realitätsgeltung? Das kann man nicht mehr durch ihre evolutionäre Entstehung erklären, sondern nur noch seinstheoretisch-metaphysisch.
P.S.: Kleine Anmerkung: Philosophie ist keine Geisteswissenschaft, ebensowenig wie die Theologie, die Mathematik und Jura Geisteswissenschaften sind.
@Aleks:
FEGELEIN! FEGELEIN! FEGELEIN! FEGELEIN!
@Ruben
Mag sein, dass fundamentale Rinzipien/ Denkmuster/ Gesetze aufgrund ihrer fomallogischen Struktur nicht abzuschütteln sind, wenn man sich zur Aufstellung und/ oder Widerlegung von Theorien im Kreis dreht. Ebenso müsig ist dann aber auch die Frage nach dem Warum, dem Wieso und dem Weshalb! Es stimmt, dass die Evolution da nur halbherzige Antworten anbietet, wie “es hat sich halt durchgesetzt und muss daher überlebenswert sein”. Aber das ist zumindest schonmal etwas, das man für sich annehmen kann – auch wenn es noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist.
In der Pädagogik – dem Fach aus dem ich hier mehr oder weniger der Vertreter bin – wird das mit dem Warum nur oberflächlich behandelt, weil man im alltäglichen Entscheidungsproblem mit dieser Frage oft nicht viel anfangen kann, sie fördert keine Problemlösung. Wahrscheinlich ist deshalb das Warum eher eine philosophische Angelegenheit. Aber das heißt noch nicht, dass ich mich so offensichtlich im Kreis drehe, wenn ich sage, ich setze Grundnormen, gehe damit soweit ich kann und überprüfe bzw kläre sie, wenns Probleme gibt. Gut, ich setze einfachste Logik – wie dein Nichtwiderspruchsprinzip usw. vorraus – als Konstrukt! Und nur als solches fasse ich Logik auf, als Konstrukt – ein Werkzeug, um mit die Umwelt verständlich zu machen.
Andererseits sollten wir auch nochmal die Wortwahl abstimmen. Mit Klärung von Grundnormen meine ich nicht Erklärung derselben! Das ist leider zu schwach gewählt von mir. Ich meine mit Klärung eher sowas wie Verstehen. In Geisteswissenschaften versuchen wir natürlich in erster Linie, Dinge zu verstehen. Das mit der Erklärung ist mehr den Naturwissenschaftlern vorbehalten. Das mit dem Verstehen ist aber eine knifflige Sache, wenn man das Induktionsproblem erkannt hat. (Also dass Erkenntnis nicht aus den Tatsachen an sich gewonnen werden kann, sondern dass immer nur Vorwissen zu einer neuen Wahrnehmung wird). Das Wort “Wahrnehmung” sagt es schon so schön: Dinge für Wahr nehmen – nicht sie zur Wahrheit erklären. Das Problem ist jetzt, wo alle Erkenntnis ihren Anfang nahm.
Eine Sache wird mir jedenfalls bewusst: Ich neige tatsächlich zu einer irgendwie gearteten Nutzenorientierung – und wenn auch manchmal indirekt. Das ist wohl der Grund dafür, dass wir uns hier nur marginal annähern können. Ja das mit der Klärung von Grundnormen soll natürlich die Funktion haben, mir als Pädagogen einen Anfangspunkt für meine wissenschaftliche Arbeit zu geben. Welche Meta-Verständnisebenen sich darüber noch befinden liegt im philosophischen Bereich. Ich winke dir dort oben ja eigentlich nur zu von meinem Standpunkt aus – habe ich den Eindruck.
Die Frage, die ich mir als Pädagoge stelle ist jetzt, welche Funktion dein Meta-Denken für dich hat und was Du zum Verständnis (des Lebens, des Universums und des ganzen Rests) beitragen kannst. Ist ja schön, wenn Du uns funktionalen Wissenschaftlern unsere Zirkel und Widersprüche aufzeigst – genauso wie die Mathematik der Physik erklären kann, dass vieles von dem was da gerechnet wird einfach falsch ist (hab ich mal von nem MatheStudenten gehört), aber vielleicht täte ein bischen Nutzen für die Welt – z.B. Ausgänge aus diesen Widersprüchen, diesen Abhängigkeiten von Postulaten und den fundamentalen Prinzipien des Denkens mal ganz gut. Wenn Du z.B. mal Kinder erziehen sollst – was viel fundamentalere Zwänge schafft, als Du dir vielleicht vorstellen kannst – musst Du dir Antworten einfallen lassen. Denn Kinder fragen immer und immer wieder: “Warum ist das ein Feuerwehrauto?” wenn du ihnen erklären willst, dass das ein Feuerwehrauto ist.
@Erik:
Die Evolutionstheorie beantwortet die Frage nach der Geltung logischer Prinzipien nicht “nur halbherzig”, sondern überhaupt nicht. Ich hoffte, das ist in meinem Getexte hier halbwegs klar geworden: Es handelt sich bei der Frage nach der Entstehung und bei der Frage nach der Geltung schlichtweg um zwei völlig verschiedene Fragestellungen. Die Erklärung der Entstehung beantwortet nicht die Frage nach der Geltung. Das wäre ein eklatanter Fehlschluss (the naturalistic fallacy).
Du fasst Logik als Konstrukt auf, um “die Umwelt verständlich zu machen”. Ja wieso macht dieses Konstrukt denn die Umwelt verständlich? Nur dann, wenn die Logik nicht bloß willkürliches Konstrukt ist, sondern schon grundsätzlich irgendwas mit der internen Struktur der Umwelt zu tun hat, d.h. wenn sie nicht einfach nur von uns dahinkonstruiert ist, sondern wenn sie in irgendeinem Punkt zur Struktur der Umwelt isomorph ist. Diese Isomorphie zwischen den fundamentalen logischen Strukturen und den Strukturen der Wirklichkeit ist die absolute Voraussetzung für all unser Erkennen und die absolute Voraussetzung für jede Kritik. Kritisieren kann ich etwas nur, wenn ich es schon besser weiß. Ansonsten würde ich überhaupt nicht auf den Trichter kommen, dass irgendwelche Behauptungen an der Wirklichkeit vorbeigehen. Wenn die tiefsten Strukturen unseres Denkens nicht grundsätzlich schon isomorph zu den Strukturen der Wirklichkeit wären, dann könnten wir aufhören zu argumentieren, denn dann wäre wirklich alles scheißegal und jeder kann behaupten, was er will.
Genau diese Realgeltung der logischen Strukturen ist das allem zugrundeliegende implizite Vorwissen all unserer Erkenntnis, das Du beim Thema Induktionsproblem ansprichst. In den fundamentalen Strukturen unserer gesamten Theoretizität sind wir bereits bei den fundamentalen Strukturen der Wirklichkeit selbst. Wir können dieses implizite Vorwissen uns nachträglich bewußt machen und in retorsiven Beweisen erhellen, aber wir können es nicht mehr anderswoher ableiten, weder aus der evolutionären Entstehung unseres Gehirns und unserer physischen Erkenntnisfunktionen, noch aus irgendwelchen anderen Tatsachen. All unsere Erkenntnis nimmt ihren Anfang im Sein. Das Sein ist nichts, was uns empirisch durch Sinneserfahrung gegeben wird. Nirgendwo liegt das Sein herum, wir können es nicht hören, nicht riechen, nicht sehen, nicht schmecken, nicht ertasten… es ist in allem, es ist alles. Es ist das Universum und es ist das Denken. Es ist die innere Tiefendimension aller Wahrnehmung, aller Erfahrung und allen Denkens. Es ist immer schon da. Und wir wissen implizit immer schon um Sein. Darum wissen wir implizit immer schon um Wirklichkeit und Realität – denn wir sind Realität und unser Denken ist Realität – und seine fundamentalen Gesetze, aus denen das Denken nicht aussteigen kann, ohne mit sich selbst in Konflikt zu geraten, sind die fundamentalen Gesetze der Wirklichkeit.
Die Funktion meines Meta-Denkens ist also nicht, Dir einfach nur in nutzloser Weise Zirkel und Widersprüche aufzuzeigen. Ich habe hier darlegen wollen, wieso jede Naturwissenschaft die Wirklichkeitsgeltung der fundamentalen logischen Gesetze voraussetzen muss und wieso keine Naturwissenschaft diese Wirklichkeitsgeltung erklären kann, weil sie diese Wirklichkeitsgeltung immer schon voraussetzen muss. Damit zeige ich Dir eine Dimension der Wirklichkeit auf, die über das empirische Faktenwissen hinausgeht. Damit zeige ich Dir auf, wieso Seinstheorie sinnvoll ist. Damit zeige ich Dir auf, warum Du einem beschränkten Weltbild aufgesessen bist, damit weise ich dieses Weltbild in seine Grenzen. Es gibt eine Dimension der Wirklichkeit, in der Du immer schon lebst und die implizit in all deinem Denken anwesend ist – und ohne die du nichtmal Deine verabsolutierenden Thesen der Nutzenorientierung aufstellen könntest.
Lasse diese Dimension an dich heran. Sie wird Deine Lebensqualität steigern, weil sie deinen Geist öffnet für die Tiefen der Realität. Diese Tiefen sind in allem, was wir veranstalten, ob wir zweckfrei forschen, ob wir Warum-Fragen stellen, ob wir Nutzenkalkulationen aufstellen oder die Welt einfach nur auf uns wirken lassen. Diese Dimension trägt neben allem konkreten Forschen dazu bei, tiefer zu erfassen, was wir eigentlich sind.
Jetzt setzt Du aber bereits voraus, dass die Strukturen des Denkens isomorph zu den Strukturen der Wirklichkeit sind, um eben diese Behauptung selbst zu beweisen! Das ist vielleicht irgendwo einleuchtend aber in der vorliegenden Formulierung ungültig.
Wenn jede Wissenschaft die Wirklichkeitsgeltung der fundamentalen Gesetze vorraussetzen muss und diese Wirklichkeitsgeltung nicht erklären kann, dann musst Du sie auch vorraussetzen. Wie ist deine Meta-Sicht also möglich? Unterliegst Du nicht auch – wenigstens unbewusst – empirischer Erfahrung, die dich im Denken geprägt hat, die evtl über Widersprüche und Inkonsistenzen ein Denken über die logischen Strukturen des Ganzen aus einer anderen Perspektive angeregt haben?
Der Begriff der Dimension ist mir hier recht schwammig aufgefasst. Es ist in der Erkenntnistheorie (und auch in empirischen Wissenschaften) völlig klar, dass es unzählige Dimensionen geben kann. Jede Forschungsfrage wird in mehreren Dimensionen gefasst und abgeklopft.
Als Wissenschaftler rede ich auch nicht von Grenzen, sondern eher von Horizonten. Natürlich begrenzt ein Horizont zunächst das Weltbild, doch er bewegt sich doch mit, wenn ich mich (scheinbar) darauf zu bewege! Dem Satz “Es gibt eine Dimension der Wirklichkeit, in der Du immer schon lebst und die implizit in all deinem Denken anwesend ist (…)” kann ich nur zustimmen – ist er doch analog zu meinem beschriebenen Deduktivismus. Aber der gilt nicht nur für mich und meinesgleichen, sondern für dich genauso.
Dein letzter Abschnitt hat was predigendes an sich. Woher nimmst Du die Unabhängigkeit, hinter die Dinge sehen zu können, wenn Du selbst doch ebenso in DEINER Wirklichkeit lebst?
Der Theorie, der ich mich am nächsten verbunden fühle ist die Systemtheorie. Dernach ist der Mensch ein autochtones (selbst-ursprüngliches) System, das in einer Welt aus in sich geschlossenen Systemen existiert. Die Funktion eines Systems wird dort einzig über ihre Wechselwirkungen mit anderen Systemen begründet, was dann Kommunikation genannt wird. Dabei wird zum Beispiel auch nahegelegt, dass alles determiniert ist. Ich frage mich an dieser Stelle, was Du mit innerer Tiefendimension der Wahrnehmung meinst. Denn es scheint mir plausibler, dass alles – auch unser Denken – durch Kausalstrukturen bestimmt wird. Und diese Strukturen lassen sich doch mitunter beobachten. Wir kennen nur nicht alle Determinanten im Universum.
Die “Tiefen der Realität” sind demnach nur eine Fülle an Faktoren (jedes einzelne Teilchen im Universum), die zu erfassen für unser Gehirn viel zu groß ist. Forschung kann nur versuchen, die groben Zusammenhänge zu verstehen. Empirisches Faktenwissen ist dabei nur ein kleiner Bereich. Den überzubewerten ist sicher unzweckmäßig (siehe Positivismus). Aber das tut doch heute auch kein echter Wissenschaftler mehr!
WAS wir wirklich sind findet sich meiner Meinung nach nicht in uns selbst, sondern in den Unterschieden zu anderen. So wie ein System sich durch seine Unterschiede zu anderen abgrenzt. Formallogische Strukturen setze ich auch hier vorraus, ja. Aber vielleicht ist es so, wie Du sagst, dass sie der Wirklichkeit immanent sind.
Ich muss meine Ausführungen zur Systemtheorie revidieren. Wir haben zu anderen System keinen direkten Zugang. Auch Kommunikation findet unabhängig von uns statt. Man kann sich das wie eine geschlossene Blase vorstellen, in der Wir sitzen. Und manchmal zuppelt hier einer, manchmal zwickt es dort. Und wir reagieren darauf. Im Laufe des Lebens, im Laufe der Evolution, lernen wir, auf das Zuppeln und Zwicken so zu reagieren, dass wir besser überleben (ganz allgemein formuliert). WAS unser eigenes Handeln bei anderen Systemen bewirkt, wissen wir nicht. In sofern steht Systemtheorie der Empirie auch eher reserviert gegenüber. Aber in übergeordneten Systemen – Kulturen etwa – gibt es die bereit angesprochenen Muster oder Meme. Und diese sind im Grunde nichts anderes als Annäherungen zwischen den einzelnen “Untersystemen” der Kultur, die sie einigermaßen angleichen. Und diese sind im Grunde als Erfahrungen und beobachtbare Strukturen aufzufassen. Man nimmt diese Muster, die scheinbaren Beobachtungen, als wahr an (“Wahrnehmung”) und sieht, wie weit man damit kommt. Das ist genau dasselbe, wie das mit der Konstruktion von Grundnormen.
@Ruben
Deine Seinstheorie müsstes du nochmal näher erläutern. Bisher klingt das bei dir so, als sollte ich schlicht daran Glauben. Was macht sie plausibel? Was sind ihre Grundannahmen?
@Erik:
Nur weil ich in der letzten Antwort meinen Text mit ein bisschen pathetischen Sulz übergossen habe, heisst das noch nicht, dass es um Glauben geht. Es geht um Wissenschaft. Ich dachte, meine Antworten wäre zwecks Plausibilisierung klar gewesen. Wenn nicht, gerne mehr über Seinstheorie und Ontologie, aber ein andermal.
Sorry, ich komme in der durch Aufteilung unter verschiedene Ventures entstandenen Knappheit meiner Zeit mit dem explodierenden Diskussionsvolumen nicht mehr mit ;-) Als nur die beiden meiner letzten Entgegnung nachfolgenden Kommentare von Aleks und Ruben da standen, begann ich wieder, eine längere Antwort zu formulieren, deren fragmentarische Anfänge ich jetzt aber nicht mehr auf den Rest der Diskussion extrapolieren kann. Nichtsdestotrotz möchte ich nochmal einige der Notizen aufgreifen, die ich solcherart begonnen habe, vielleicht bergen sie ja dennoch Interessantes:
1. “Ihr kreidet mir an, dass ich alles immer wieder auf naturwissenschaftliche Kategorien zurückdrehe und mir so den Weg verbaue, diese Kategorien selbst zu hinterfragen. Mag sein, dass ich eine Perspektive auffahre, die jedes Meta der Art, wie ihr sie aufbietet, immer wieder auflöst, weil: Hammer, für den alles wie ein Nagel aussieht. Ich halte das Bild aber für symmetrisch: Perspektive A ordnet sich letztlich alles naturwissenschaftlich unter, auch jede kognitive Bedingung der Naturwissenschaft. Perspektive B ordnet sich letztlich alles metaphysisch unter, auch jede materielle Bedingung metaphysischen Denkens.
Eure Perspektive B schreibt bestimmten geistigen Kategorien wie Logik und Sprache eine Absolutheit zu, die sie über die materielle Welt stellen, denn wie sonst wenn nicht über diese Kategorien können wir die materielle Welt erfassen? Und ihr macht eine klare Hierarchie des Denkens auf, in der die Metaphysik nur über der Naturwissenschaft stehen kann. Es ist in dieser Denkweise vielleicht fraglich, ob sich das reine Denken aus sich selbst erklären lässt, aber es ist in ihr nicht fraglich, dass dies jedenfalls nicht aus einer bloßen, unselbständigen Ableitung seiner selbst wie diesem Modell einer materiellen Welt, das wir uns auch bloß erdacht haben, möglich sein dürfte.
Meine Perspektive A (aufgrund meiner beschränkten Fähigkeit zur objektiven Selbstanalyse ist diese Darstellung wahrscheinlich noch danebener als die der Perspektive B) tut dasselbe umgedreht: Ich schreibe der Materie eine Absolutheit zu, die sie über die geistige Welt stellt, denn für mich wäre die geistige Welt ohne die materielle Welt unmöglich. In meiner Hierarchie kann das reine Denken noch so viel Metaphysik machen wie es will, es wird immer der Materie untergeordnet bleiben, sich nicht aus der Abhängigkeit in ihr befreien können. Vielleicht kann die materielle Welt sich nicht selbst überwinden, aber ganz sicher nicht kann das dann die bloße, unselbständige Ableitung namens ‘Geist’!
Ich weiß nicht, inwieweit ihr diese beiden Zeichnungen der Perspektiven als getroffen unterschreiben würdet, aber so, wie sie gezeichnet sind, sind sie natürlich beide zu kurz gedacht: Und zwar, weil sie in einfachen Oben-Unten-Hierarchien denken, in denen sich etwas, das aus dem Einen entsteht, nicht zu etwas Anderem, erst recht nicht zu einem Meta des vorhergehenden Einen verselbständigen kann. Vielleicht ist es aber eher so: Aus der Materie emergiert der Geist, wie auch immer (x), hin zu einer Komplexität, die sich gegenüber der Materie verselbständigt. Und vielleicht gilt Dasselbe auch umgekehrt: Aus dem Geist emergiert eine Anordnung (wie Mathematik oder Naturwissenschaft), die sich so genau mit den Strukturen der Materie zu verzahnen weiß (y), dass sie ihre eigenen Dynamiken in geringerer Abhängigkeit von den Strukturen des Geistes und in größerer Abhängigkeit von den Strukturen der Materie entwickelt.
Ob und wie sich dadurch diese beiden Perspektiven irgendwie harmonisieren lassen, soweit will ich schon gar nicht mehr spekulieren. Vielleicht wäre es mit den beschränkten Kapazitäten des menschlichen Geistes ganz unmöglich (was aber nichts über posthumane Intelligenz aussagt, die wir ja schon jetzt besitzen, mit unseren sich verselbständigenden Externalisierungen von Denkprozessen, den menschsprachlich unnachvollziehbare Komplexitäten simulierenden Computern usw.).”
2. Hier wollte ich in meinem Ursprungs-Entgegnungs-Diskurs eine lange Überlegung darüber anstellen, was Intelligenz sein könnte und wie sie entstehen mag. Die Frage kam seitens euch auch schon früher in der Diskussion auf, wobei ich sie damals beiseite liegen ließ. In jedem Fall würde ich gerne einen Intelligenz-Begriff entwickeln, der unabhängig vom menschlichen Geist funktioniert. Wenn die Wikipedia z.B. vorschlägt: “Fähigkeit zum Erkennen von Zusammenhängen und zum Finden von Problemlösungen”, dann ist mir das noch viel zu spezifisch; eher etwas Richtung “Intelligenz ist eine Flexibilität, mit einer Vielfalt von Situationen (durch Abstraktion, Antizipieren usw.) umzugehen” (um mich selbst aus Twitter zu zitieren); sie hat viel mit effizienter Anpassung an Situationen und Lernfähigkeit zu tun.
So könnte ich dann auch das Universum, die Evolution und den menschlichen Geist “intelligent” nennen und sie in ihren verschiedenen Arten von “Intelligenz” vergleichen. Und daraus hätte ich dann versucht, prä- und postsprachliche Stufen von Intelligenz zu entwickeln: von bloßer lernfähiger Reaktion des Tieres, die wir nachträglich sprachlich zu beschreiben versuchen und so vielleicht eine Intelligenz-Komplexität hinein interpretieren (wie z.B. Intentionalität), die gar nicht vorhanden sein mag; bis zur hyperkomplexen Computersimulation, die wir in ihrer Gesamtheit nicht mehr sprachlich nachvollziehen können, aus der wir uns aber selektiv mit dem unserem Interesse entsprechenden vorformulierenden Query das menschsprachliche Orakel-Ergebnis herausmeißeln, das wir haben wollen.
So hätte ich dann das Tor aufgestoßen, um nicht einfach Sprache aus Sprache zu erklären, wie es die Metaphysik versucht, sondern um Sprache auch aus vorsprachlicher Intelligenz herzuleiten und wiederum von postsprachlicher Intelligenz analysieren zu lassen. Ihr merkt schon, ein etwas überambitionierter und wahrscheinlich paradoxer Ansatz; deshalb belasse ich es nun nur in dieser groben Darstellung dessen, was ich vorhatte, und rezitiere noch den einzigen Schnippsel, den ich bereits ausgearbeitet hatte, und den ich jetzt nicht in meinem Texteditor sterben lassen möchte:
(y) “(Ich möchte zur Illustration auch noch einmal auf die umstrittenen Ideen von Julian Jaynes zurückkommen: Der nimmt einen Stand in der menschlichen Geschichte an, in der das Gehirn folgendermaßen zweigeteilt operierte: Ein Teil A verarbeitet in undurchsichtiger, jedenfalls vorsprachlicher Weise Informationen der Außenwelt in Handlungssignale, die dann an einen anderen Ausführungs-befähigten Teil B in Form der Informationskodierung gesandt werden, der dieser durch evolutionäre Anpassung und kulturelles Training hörig ist: nämlich der zu einer Sprache ausdifferenzierten Laute nahe-stehender (physisch wie auch familiär und hierarchisch) Rudelmitglieder. Der vorbewusste Mensch hört Stimmen und führt ihre Anweisungen unreflektiert aus, d.h. reagiert auf diese Stimmen, wie es ihm evolutionär oder erzieherisch einprogrammiert ist. (Die Schizophrenie sieht Jaynes als Atavismus dieser Stufe.) Dieser Mechanismus funktioniert, bis die soziale Organisation des Menschen eine bestimmte Komplexität erreicht: Mehr und mehr verschiedene wahrgenommene, widersprüchliche Stimmen / Autoritäten im Kopf müssen miteinander in Einklang gebracht werden. Es entwickelt sich notgedrungen Intelligenz, um Gesprochenes gegeneinander abzuwägen, zu vergleichen. Die inneren Stimmen abstrahieren sich notgedrungen fort von der Simulation konkreter, naher Umwelt und ihrer Personen, hin zum Außer-Umweltlichen und Entpersonalisierten (eine Entwicklung, die im Übergang vom alltäglich in der Umwelt konkret erfahrenen Naturgeist zum fernen und übernatürlichen Gott des Monotheismus nachvollzogen wird); zugleich vergrößert das Gehirn seinen Kanal bloßer Ausführung in einen prüfenden Reflexionsraum, ein ebenso unräumliches “Inneres”, einen virtuellen Raum, in dem sprachlich formulierte Gedanken ganz verselbständigt nebeneinander gestellt, durcheinander geschoben, zerlegt und rekombiniert werden können: dem ‘Bewusstsein’, das solcherart Begriffe wie ‘Ich’ und ‘Welt’ entwickelt. Nur um mal ein Beispiel zu geben, wie eine Genese unseres Geistes vorstellbar wäre.)”
3. Ein anderer Textbrocken aus meinem Editor, der das in Punkt 1. Skizzierte nochmal mit anderen Worten aufgreift:
“Aleks: ‘Die Methodik von Naturwissenschaft wiederum setzt das Funktionieren von Logik voraus und das Vorhandensein von vollkommen freien mentalen Entscheidungen, die nicht durch praedeterminierte Molekuelverschaltungen im Hirn zustandenkommen.‘ Den letzten Teil verstehe ich nicht. Warum setzt Naturwissenschaft das voraus? Ich verstehe nicht, warum ‘Die Mechanismen der Natur selbst wuerden die Theorien erzeugen, die die Mechanismen erklaeren’ die Theorien disqualifizieren würde. Das wäre halt eine sich über ihre eigene Ursuppe erhebende und diese aufsaugende Verselbständigung von Dynamiken, wie sie geradezu Grundbedingung vieler Entwicklung in der Natur zu sein scheint: So entsteht etwa aus der genetischen Selbstreplikation und Mutation intelligentes Leben, das fähig ist, sich von den Dynamiken dieser Selbstreplikation und Mutation zu lösen, z.B. indem es den Gencode selbst ‘direkt’ im Labor schreibt. Die ‘Erklärung’ irgendeiner Mechanik der Natur wiederum ist doch nichts weiter als ein Informationsmuster (genauso gut erzeugbar durch einen Zufallsgenerator), das doch durch sein bloßes Vorhandensein nicht diese Mechanik aufhebt. Du beschreibst nichts weiter als eine Intelligenz, die sich durch Verselbständigung von ihren Ursprungs-Bedingungen löst. Ich sehe nicht, was daran paradox sein sollte.”
4. “Ich bestreite eine objektive Geltung von Moral, wenn ‘objektiv’ heißt: unabhängig der Perspektive einer menschlichen Kultur. Ich stimme zu, dass sich ‘[a]us naturwissenschaftlichen Fakten’ kein moralischer Anspruch ziehen lässt. Ich sehe darin auch gar kein Problem. Unsere Kultur hat sich — nicht zuletzt dank Technologie — als unser Lebensumfeld hinreichend verselbständigt, dass wir die Normen unseres Zusammenlebens aus ihren Errungenschaften zusammenzusetzen wählen können, anstatt uns unmittelbar den Gewalten einer Natur auszuliefern, der unser Wohlbefinden völlig gleichgültig ist. Und das ist eben eine Wahl, die wir ganz egoistisch zu unserem Wohle treffen, nicht eine, die objektiv in den Kosmos eingeschrieben wäre. Und als Wahl ist sie flexibel: Sie kann morgen eine andere sein als heute. Denn vielleicht definieren wir unser Wohl morgen anders, als wir es heute tun.”
5. “Ruben: Du unterstellst mir diverse Arroganzen — ‘mentale[n] Chauvinismus’ —, die ich so nie niedergeschrieben habe: ‘Wenn man sagt, Fragen und Antworten über den naturwissenschaftlichen Bereich hinaus seien unvernünftig und einem richtigen Denken nicht gemäß und man müsse sich erstmal dafür rechtfertigen’ — wo, bitte sehr, schreibe ich denn so etwas? Eher zielt ein großer Teil deiner eigenen Kommentare darauf ab, Ideen zu disqualifizieren, weil sie einem Denkansatz zu entspringen scheinen, der für dich indiskutabel weil unseriös (Wie definierst du Seriosität?) oder gar unmoralisch ist. Ich kann mich nicht erinnern, irgendwo je ein Denkverbot ausgesprochen zu haben. Höchstens habe ich durchblicken lassen, dass der eine oder andere Denkansatz mir für eine bestimmte — diesem Denkansatz womöglich völlig externe — Frage oder Aufgabe wenig ergiebig erscheint. Hier ist genug Platz für lautes Nachdenken, ich muss nicht auswählen, was ich erlaube und was nicht.”
6. Ganz unabhängig von allen obigen Punkten möchte ich auf zwei andere Diskussionen verweisen, die die Teilnehmer hier vielleicht interessieren könnten, weil sie IMHO ganz viele der selben Punkte abarbeiten: Beim Kulla eine sich über mehrere Beiträge hinziehende (noch nicht vollständige) Kritik an Dawkins’ Wissenschaftsideologie — derzeit hier & hier … Und in den Kosmologs der Beitrag Animismus und Kosmologie? Eine Betrachtung — hier hat es mir vor allem der Leserkommentar von “adenosine” angetan:
(y) “Ein Modell, das taugliches Handeln aus der Existenz von Übernatürlichen ableitet kann im Einzelfall so gut oder besser funktionieren wie ein naturwissenschaftliches Modell. Die Tauglichkeit misst sich aber nicht an mathematischen Wahrheiten, sondern allein am Überlebenserfolg.”
“Aus der Materie emergiert der Geist, wie auch immer (x), hin zu einer Komplexität, die sich gegenüber der Materie verselbständigt. Und vielleicht gilt Dasselbe auch umgekehrt: Aus dem Geist emergiert eine Anordnung (wie Mathematik oder Naturwissenschaft), die sich so genau mit den Strukturen der Materie zu verzahnen weiß (y)…”
Ich hab den ganzen Thread mit Interesse gelesen, obwohl ich mich mit Metaphysik sehr schwer tue (muß ich wohl auf die Aussicht auf gesteigerte Lebensqulität verzichten) – aber hier ist die erste Stelle, an der ich das Gefühl habe, dass sich der Knoten dieser Diskussion ein bißchen lockert. Nur mit dem Begriff “Geist” hab ich meine Probleme. In dem Zusammenhang frage ich mich auch, wie aus “Geist” etwas emergieren kann – okay, vielleicht im Sinne von Vergesellschaftung.
Um den Synchronisationsmodus zwischen Wahrnehmung und Materie zu erfassen, fühle ich mich mit dem Begriff “Beobachtung” eigentlich ganz wohl. Vielleicht hänge ich da ja zu sehr an den einschneidenden Paradigmenwechseln des 20. Jahrhunderts. :)
@Christian:
Vielen Dank für Deine Antwort.
ad 1., Zu den Perspektiven. Ich denke, Du hast recht, dass dieses symmetrische Bild der beiden Hierarchie-Perspektiven entstehen kann. Es ist aber keine notwendige Folge aus meiner Meta-Argumentation, dass eine geistige Welt völlig unabhängig von jeder materiellen Grundlage existiert. Zunächst müsste man klären, was hier “Geist” bedeutet. Ich meine damit nicht Bewußtsein, sondern Strukturalität. Dann müsste man klären, was man mit “Materie” meint. Wenn man damit etwas meint, was völlig unabhängig von jeder Strukturalität existiert, dann leugne ich, dass es so etwas für sich alleine überhaupt geben kann. Es gibt nichts, was nicht irgendwie strukturiert wäre. Umgekehrt gibt es keine Strukturen, die nicht Strukturen von irgendetwas wären und als free-floaters quasi frei im Raum herumflattern. Aber die Struktur und das, was durch sie strukturiert ist (das strukturierte “Substrat”), sind nicht einfach platt identisch. Sie sind nicht trennbar, aber auch nicht einfach dasselbe – sondern die zwei Konsitutiva dessen, was wir dann eine materielle Entität nennen. Sie können nur zusammen existieren, sie sind notwendig korreliert, aber sie sind nicht jeweils auf das andere reduzierbar. Diese irreduziblen Korrelate nannte die klassische Philosophie “entia quibus”: Ein “ens quo” ist ein “Seiendes, wodurch” ein Ding existiert. Für sich alleine existieren die entia quibus nicht, jedes “ens quo” kommt nur mit seinem Korrelat vor und bildet mit ihm zusammen eine Entität unserer Welt.
In dieser Denkweise stellt sich meine Perspektive (die jenseits der von Dir genannten Perspektiven A und B steht) jetzt folgendermaßen dar: Unser “Geist” ist ein Teil unserer Strukturalität. Er kommt nur mit seinem “materiellen” Substrat vor und dieses ist insofern seine notwendige Bedingung. Aber auch umgekehrt ist die “geistige” Strukturalität notwendige Bedingung unseres Leibes (wenn wir sterben, dann baut sich eben unsere Struktur und mit ihr das Substrat ab, bzw. transformiert sich in anders strukturierte Entitäten – vermoderte Gebeine, Erde,…). Beide, Struktur und Substrat, kommen nicht unabhängig voneinander vor.
Die Struktur unseres geistig-theoretischen Lebens (Denken, Theorien bilden etc.) und die Strukturen der Dinge in der Welt sind nicht einfach zwei völlig verschiedene Sachen. Sie gehören beide derselben Strukturdimension an. Das heisst nun zweierlei: Erstens, eine reine, “geistlose” Materie gibt es nicht – und zweitens, “Geist” meint nicht einfach nur unser subjektives Bewußtsein und etwas, das von der Materialität der Welt außerhalb zu trennen wäre. “Geist”, das sind vornehmlich fundamentale logische, mathematische und inhaltliche Strukturen, und die existieren nicht nur in unserem Kopf, sondern sind auch die Strukturen der Welt. Und das ist das, was die antiken und mittelalterlichen Denker mit Geist und Vernunft meinten. Mit unserer Vernunft sind wir immer schon bei der objektiven Dimension der Welt und nicht abgekapselt in unserer Denkblase.
Mal salopp gesagt: Wenn jemand vor Gericht steht und eine zwingende Beweiskette vorgelegt wird, die zeigt, dass er der Täter ist, und er dem Richter dann sagt: “Tut mir leid, Herr Richter, unsere Logik ist einfach nur ein menschliches Konstrukt und gibt nicht die Wirklichkeit wieder, wie sie tatsächlich ist, deswegen kann das möglicherweise auch alles nicht stimmen, was gegen mich vorgelegt wird und es gilt weiter die Unschuldsvermutung für mich” – dem würde jeder Richter den Vogel zeigen, und das mit gutem Grund.
Daraus ergeben sich noch eine Konsequenz für einen anderen Punkt:
ad 4.: Moral bedeutet eben gerade nicht Beliebigkeit. Wenn wir im Bereich des logisch-mathematischen Strukturen denken, die wir nur so und nicht anders denken können (weil wir uns sonst in Widersprüche verheddern und mit unserem Denken selbst in Konflikt geraten), dann deswegen, weil wir diese Strukturen eben nicht erfunden haben, sondern weil sie in der objektiven Wirklichkeit verankert sind. Ebenso ist es dann aber auch mit ethischen Prinzipien, auch die sind nicht alle komplett frei erfunden, sondern manche sind unveränderlich, weil sie etwas mit der objektiven Wirklichkeit zu tun haben. Eine Ethik, die letzten Endes auf Konvention, Konstruktion und Beliebigkeit basiert, hätte den Namen Ethik nicht mehr verdient. Es gibt Handlungen, die sind einfach objektiv ethisch falsch und nicht durch die Hintertüre in anderen Kontexten ethisch gut zu machen.
Dabei will ich es erstmal bewenden lassen, da ich gerade müde bin, aber zeitnah antworten wollte (sonst ist die Debatte in ihren Siebenmeilenstiefeln schon wieder woanders). Zu dem mentalen Chauvinismus noch: Du persönlich magst keine Denkverbote aussprechen, ich zetere hier auch gegen den Empiristen, Utilitaristen und Naturalisten in Dir als gegen Dich persönlich. Und ja, ich denke, die Reduzierung der Erkenntnis auf empiristische Einschränkungen, die Reduzierung von Rationalität auf Zweckrationalität und die Reduzierung der Wirklichkeit auf naturalistisch verstandene Materie ist nur um den Preis von Dogme im Sinne von Denkverboten zu erkaufen. Denn der Naturalismus gerät ins schwimmen, sobald man ihn auf seine impliziten logischen und ontologischen Voraussetzungen abklopft. Die passen nämlich nicht zu seinen Thesen. Das habe ich hier in dieser Diskussion in epischer Breite versucht zu zeigen. Man kann sich da als Naturalist nur retten, wenn man dieses Abklopfen der Prämissen als “externe” Fragen und als “unergiebig” abtut.
Und jetzt stellt euch einfach mal vor, das wäre hier kein Mailwechsel, sondern eine Diskussion vor Publikum. Einem Publikum, das nicht so sehr daran interessiert ist, wer besser mit dem Ast auf dem Boden schlagen kann, sondern vielleicht auch etwas verstehen möchte. Schwieriges Gedankenspiel, ich weiß. Aber ich glaube an euch.
“Kurzer” Kommentar nur zu einem von Christians Textfetzen. Du sagst:
“Die ‘Erklärung’ irgendeiner Mechanik der Natur wiederum ist doch nichts weiter als ein Informationsmuster (genauso gut erzeugbar durch einen Zufallsgenerator), das doch durch sein bloßes Vorhandensein nicht diese Mechanik aufhebt.”
Von Aufheben der Mechanik war nie die Rede. Die Frage ist, ob das Informationsmuster irgendwas ueber die Mechanik aussagt, um in deinem Vokabular zu bleiben. Nehmen wir an, ich habe zwei Theorien zur Erklaerung eines Phaenoemens habe, das ich der Realitaet zuordne und das ich verstehen will. Nehmen wir weiter an, die Entscheidung zwischen beiden ist nicht frei, d.h. die molekularbiologischen Verschaltungen in meinem Hirn zwingen mich dazu, Theorie A zu waehlen, und Theorie B hat nie eine Chance. Dann habe ich keinerlei Handhabe zu behaupten, Theorie A sei tatsaechlich eine gute Erklaerung des Phaenomens. Dafuer benoetige ich ein externes Geruest, Spielregeln, die nicht wiederum aus dem zu erklaerenden Phaenoemen entstammen duerfen, einen objektiven Standpunkt ausserhalb der zu untersuchenden Phaenomene. Sonst kann ich zwar weiterhin Naturwissenschaft betreiben, aber sie erlaubt mir keine Aussage ueber die Realitaet, ausser der, dass ich praktisch abschreibe, was sie mir sagt, ohne es je ueberpruefen zu koennen. Die Natur diktiert der Menschheit, was diese ueber die Natur zu wissen hat.
Ich kann nicht anders, ich muss mir dabei eine Fussballmannschaft vorstellen, die sich im Mittelkreis zusammensetzt und versucht herauszufinden, wieso sie eigentlich die ganze Zeit den Ball ins Tor schiessen.
@Christian:
Noch etwas zur “Seriösität”. Damit bezog ich mich vorallem auf Deinen Versuch, den Terror des Römischen Reiches umzumünzen in das Verschulden fanatisierter Christen, dem ein plural-tolerantes weltliches Reich gegenübergestellt wird. – Sind wir doch mal ehrlich: Ich glaube, Du fährst hier mit der Mittelalterdebatte und diesen Aussagen zur Antike den klar durchschaubaren Versuch, das Christentum zu diskreditieren. Deine Prämisse ist, überspitzt gesagt: Die Christen sind Fanatiker, Versager, dumm, gefährlich und Fortschrittshemmnisse. Dieser Prämisse wird dann die gesamte Argumentation untergeordnet – was man bis jetzt klar daran sah, dass eine einseitige Faktenauslegung passiert.
Die Römer gaben sich tolerant, solange die Leute den Kaiser als Gott angebetet haben und römischen Eigeninteressen (die die Unterjochung der Welt zum Inhalt hatten) nicht in die Quere kamen. Andernfalls bekamen die Leute die ganze Brutalität des römischen Reiches zu spüren. Bleiben wir mal bei den Juden, da traut man sich vielleicht weniger, sie so pauschal in die Tonne zu hauen wie die Christen, gegen die derzeit der breit akzeptierte Modewind weht: Es gab in der römischen Antike antijüdische Erlasse, es gab Deportationen, es gab Judenhetze, es wurde ihnen untersagt, ihre Religion frei auszuüben und dies wurde mit Spitzeln und Gewalt kontrolliert, die Juden mussten Zwangssteuern zahlen für Heiligtümer heidnischer Götter, die römischen Procuratoren übten regelrechten Terror aus in Judäa, und es wurden den Juden am Ende ihr Land und ihre Heiligtümer in Schutt und Asche gehauen und sie wurden vertrieben oder als Sklaven und Huren verkauft – die Konsequenzen dieser “Toleranz” der Römer spüren wir bis heute, die Konsequenzen sind historisch so derb und so weitreichend, dass ich es nichtmal mehr im Ansatz verstehen kann, hier eine tolerante Antike monotheistischen Fundis gegenüberzustellen. Waren der Freiheitskampf der Juden in Israel, ihr Aufstände in der Disapora und das ganze Blut, das geflossen ist für ihre religiöse und politische Freiheit alles Taten von Fanatikern, die sich gegen ein tolerantes Imperium wandten? Diese These richtet sich selbst, und von Deinen Behauptungen zur Christenverfolgung schweigen wir besser ganz.
Du haust komplexe historische Zusammenhänge in eine Pfanne, du versuchst, Religionen mit Halb- und Unwahrheiten zu diskreditieren und unter dem Anschein der Aufgeklärtheit eine Schwarz-Weiss-Malerei zu betreiben, die ich gruselig finde. Noch gruseliger finde ich, dass das dann alles so tolerant daherkommt (man man denke ja nur mal so vor sich hin), aber formuliert werden knallharte Thesen, die mich persönlich einfach schockieren. Das ist der Grund, weshalb ich hier so breitspurig gegenhalte.
Du kannst mich da gerne des Besseren belehren und mir sagen, dass ich das alles falsch verstehe. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich Deine Thesen für sehr heftig halte und für alles andere als ein naives Mal-so-herumdenken.
Ich glaube, die Materialisten haben aufgegeben. Wir koennen Priester wieder aus den Luftschutzbunkern lassen.
Gut. Dann will ich nicht verbleiben, ohne ein paar Hinweise auf sinnvolle Literatur zum Thema Mittelalter zu hinterlassen:
PINBORG, Jan: Logik und Semantik im Mittelalter, Stuttgart – Bad Cannstatt 1972.
ENDERS, H.W.: Sprachlogische Traktate des Mittelalters und der Semantikbegriff. Ein historisch-systematischer Beitrag zur Frage der semantischen Grundlegung formaler Systeme, München/Paderborn/Wien 1975.
PINBORG, Jan (Hg.): Grammatica speculativa. Sprachtheorie und Logik des Mittelalters, Stuttgart 1977ff.
HEINZMANN, Richard: Philosophie des Mittelalters, 3. Aufl., Stuttgart 1998.
FLASCH, Kurt: Einführung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1987.
FLASCH, Kurt: Das philosophische Denken im Mittelalter: von Augustin bis Machiavelli, Ditzingen 2001.
RICKEN, Friedo (Hg.): Klassische Gottesbeweise in der Sicht der gegenwärtigen Logik und Wissenschaftstheorie, Stuttgart u.a. 1998.
GOMBOCZ, Wolfgang L.: Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters, München 1997.
BOCHENSKI, Joseph M.: Formale Logik, Freiburg i.Br./München 2002.
Ich bedanke mich bei Ruben Schneider, Kathrin Passig, Roger Penrose und Adolf Hitler fuer lehrreiche Diskussionen zum Kontext dieser Publikation. Im Rahmen der hier dargelegten Forschung kamen Ressourcen des Internet Inc. zum Einsatz.
Da kommt man mal ein paar Tage nicht dazu wegen Tazkongress und Zensursula … Aber na gut, hab eh kaum noch Zeit für ;) Ich danke euch für die rege Diskussion :)
Christian: Dann mal hurtig in die Lesemaschine mit Dir :-)
@Ruben: Joa, schickt mir mal die Zugangsdaten ;-)
Cooool….wenngleich teilweise doch noch hitziger als man hätte erwarten können
Auch mein Dank an die Kontrahenten, das war einige sehr interessante und aufschlussreiche Stunden des Lesen, allerdings schwebt Ruben in Sphären, wo ich oftmals lediglich erahne wovon er spricht.