Futuristische und utopische Notizen von Christian Heller a.k.a. plomlompom.
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(“The Singularity is Near” von Ray Kurzweil lesen)
Die hundert Seiten von Kapitel Fünf sind nach der hohen Konzentration an Mindfuck-Argumenten aus den vorhergehende Kapiteln auf jeden Fall erstmal eine Erholung. Kurzweil macht eine grobe Periodisierung der kommenden Jahrzehnte in drei Revolutionen: zuerst eine durch Biotech, danach eine durch Nanotech und schließlich eine durch Künstliche Intelligenz, die in der Singularität münden werde. Diese drei schreitet er nun aber weniger (was auch bedeutet, dass ihre von ihm offerierte grobe chronologische Anordnung etwas wackelig erscheint) in Form einer komplexen Gesamtargumentation ab als in bunten Überblicken über ihren jeweiligen aktuellen Stand, die wissenschaftlichen Schlachten, die derzeit an ihren Fronten geschlagen werden, die Anwendungen, zu denen sie sich jetzt schon ausformen, und was sich aus diesen Voraussetzungen jeweils im Detail mittels des Law of Accelerating Returns an spannenden zukünftigen Potentialen schließen lasse.
So gibt’s im ersten Abschnitt viel über erwartbare medizinische Fortschritte, Gentherapien, das Nachzüchten von Körperteilen (für Kurzweil eine viel aufregendere Anwendung fuer Klontechnologie als das Nachzüchten ganzer Menschen) und, zur Beendigung des Welthungers, das Züchten von nervensystemfreiem Tierfleisch, das selbst der Vegetarier ohne schlechtes Gewissen wird verzehren können. Natürlich bekommt auch Aubrey de Grey sein Fett weg, das Wegtherapieren des menschlichen Alterns, und Kurzweil posiert ein bisschen mit seinem eigenen Lebenswandel, wie er mit intelligentem Bio-Engineering sich seine Diabetes wegkuriert habe und die berühmte Erzählung von den zweihundert Pillen, die er täglich zur Manipulation seiner biologischen Kreisläufe schluckt, was sein biologisches Alter as measured by … nachweislich jung halte. Der Verweis auf den selbstverfassten Gesundheitsratgeber darf dabei natürlich nicht fehlen, es hat fast ein wenig was von einer SlimFast-Werbung.
Was Gentherapie und Kloning nicht hinbekommen, das schafft danach die Nanotechnologie, mit den Robotern in unseren Blutkreisläufen und … Ach was, zuende gedacht könnte eigentlich jede Zelle unseres Körpers von einer Nanobot-Intelligenz besetzt werden, die unsere organischen Formen und Kreisläufe bewusst und im Dialog mit uns in Echtzeit zu steuern im Stande wäre. Nano-Assembler-Machbarksdebatten mit K. Eric Drexler streifend, prophezeiht Kurzweil allumwälzende Maschinen- und Energierevolution durch Nanotechnologie und sogar die Konstruierbarkeit eines Weltraumfahrstuhls mit Nanoröhrchen. Nichts Neues freilich, aber erfreulich, dass er bei seiner Bonbon-Vergabe auch an die Weltraumfuturisten denkt.
Seinem Kernargument am Nächsten ist dann natürlich der Abschnitt über die Künstliche Intelligenz. Hier sieht er sich genötigt, auf den “AI Winter” einzugehen, eine Phase der Ernüchterung und Enttäuschung, die die Erforschung / Bastelei Künstlicher Intelligenz in den Jahrzehnten nach einer anfänglichen Euphorie in der Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr. Nun hat er ja quasi das Patentrezept für Künstliche Intelligenz im vorhergehenden Kapitel schon ausbuchstabiert, versucht aber auch die depressive Wahrnehmung bisheriger KI-Arbeit wegzuwischen. Er stellt alles vom Expertensystem bis zum Neuronalen Netz (das mit seinem Ansatz von der Grundidee her ja quasi identisch ist) vor, in den Fußnoten bis hin zu detaillierten algorithmischen Beschreibungen der Funktionsweisen, und versucht den “AI Winter” als psychologischen Fehlschluss zu enthüllen: Wie umfassend und in welch fortgeschrittener Fähigkeit uns Systeme Künstlicher Intelligenz bereits umgeben, sei überwältigend; der Bereich der Probleme, die nur ein Mensch, aber keine KI lösen könne, schrumpfe und schrumpfe ausdauernd; dass wir der KI-Entwicklung mangelnden Erfolg vorwerfen, liege darin begründet, dass wir ein einmal von KI gelöstes Problem sofort für trivial erklären, auch wenn wir es vorher für erhaben genug hielten, um für eine KI unlösbar zu sein, sei das nun Schachspiel, Gesichtserkennung oder Sprachverständnis.
Die Grenze der Zerlegbarkeit einer geistigen Aufgabe in mathematische Algorithmen, die wir traditionellerweise zur Abgrenzung zwischen Menschen- und Maschinenintelligenz ziehen, schiebt sich weiter und weiter vorwärts und wird uns demnach bald vom Ring schubsen, wenn wir weiter auf ihr als unserem Gegner beharren.
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