Futuristische und utopische Notizen von Christian Heller a.k.a. plomlompom.
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3:56 Uhr: Wie ich die Dinge geregelt kriege – ohne einen Funken Selbstdisziplin / Kathrin Passig, Sascha Lobo
Sascha Lobo ist ein Fachmann dafür, Dinge ohne einen Funken Selbstdisziplin geregelt zu kriegen. Er erklärt, wie das praktisch geht, und produziert dabei vielleicht sogar eine neue Moral.
Der Vortrag soll in der letzten Stunde kurzfristig zusammengewuselt worden sein, und so sieht das Einführungs-Slide auch aus. Das ist gleich ein praktisches Beispiel für Dingeregeln ohne Selbstdisziplin. Lobo habe eine Methode entwickelt, Vorträge verplant auf der Taxifahrt zum Vortragsort auf die Schnelle zusammenzuwuseln, die darin besteht, einfach unsensibel zehn steile Thesen zu Irgendwas in den Raum zu schießen. Das habe schon sieben Mal geklappt. Dann dürfen wir jetzt also am achten Mal teilhaben.
Also, dann gehen wir die zehn steilen Thesen doch mal durch:
1. “Nicht an den Schwächen arbeiten, sondern an den Stärken”, die eigenen Schwächen im besetzten Arbeitsbereich soll man sich relativ egal sein lassen, sie vielleicht nicht ganz auskosten, aber die Hauptarbeit solle man auf die eigenen Stärken konzentrieren; für problematische Schwächen irgendwie Work-Arounds finden!
2. “Aufgeben lernen. Scheitern lernen.” Wenn man immer wieder an der selben Sache scheitert, warum nicht einfach mal kapitulieren. (Kathrin Passig erzählt von ihrer Küche, die sie fürs eigene Neu-Machen abriss, um sie dann in diesem abgerissenen Zustand für Jahre zu lassen, eh sie sich endlich ein Herz fasste, ihr Vorhaben, sie selbst zu machen, aufgab — und einen externen Dienstleister beauftragte.) Es helfe auch, andere Leute mal zu fragen, “Sag mal, worin bin ich eigenltich so richtig schlecht?”
3. “Notwendigkeiten neu bewerten und ausprobieren.” Das stell ich mir selber quasi als Beförderung der Evolution durch Erhöhung der Mutationsrate vor: nicht immer alles vermeintlich Notwendige als notwendig hinnehmen, auch mal bereitwillig ausprobieren, was passiert, wenn man es ignoriert. Das kann natürlich auch einige, räusper, Kosten verursachen. Für sich. Und, darauf werde ich im IRC aufmerksam gemacht, andere. Wo evolutioniert wird, da fallen auch Späne.
4. “Alles outsourcen, was sich outsourcen lässt, auch im Tausch oder über Kreuz.” Also, das outsourcen, was man halt nicht kann. Muss man wohl in Verbindung mit Punkt 1 und 2 denken. Outsourcen über Tausch: Einen Steuerberater zu bezahlen, kann sich schonmal lohnen, auch wenn’s auf den ersten Blick teuer erscheint. Outsourcen über Kreuz: x für mich selbst zu machen, bin ich zu undiszipliniert, x für dich zu machen, würde ich aber schaffen. Wenn das bei dir nun genauso ist, lass uns doch unsere x-Aufgaben untereinander austauschen und jeweils für den Anderen erledigen. “Schwächen ergänzen sich oft.”
(Es ist 4:17 Uhr und ich denke mir, in dem Zustand, den man hat, wenn man um 4:17 als Club-Mate-Zombie auf Schlafentzug in so einer Veranstaltung sitzt und zuhört: Das hier ist groß, ich bin hier Zeuge, wie eine neue Moral entsteht, verbunden mit der Prokrastinations-Arbeitsethik aus Kathrin Passigs Vorveranstaltung, ein revolutionärer memetischer Funken, der eben tatsächlich nur entstehen kann, wenn man durchnachtet um 4 Uhr, unter Drogeneinfluss und in der kreativ verworrenen Arbeitswut der Verplanten intellektuelle Produktion betreibt.)
5. “Selbstmedikation erforschen und im Bedarfsfall großzügig anwenden.” Kathrin Passig empfiehlt Ritalin, wenn man Schwierigkeiten mit getting things done habe, das schaffe bei ihr eine Arbeitswut wie ein Ameisenhaufen. Da will sie dann plötzlich ihre Steuererklärung machen, jetzt, sofort. Warum nicht mal Probleme ganz einfach mit einer weißen Pille aus der Welt schaffen? Wenn es was geregelt kriegt? So könne man auch was über den Umgang mit sich selbst lernen. Irgendwann ist man so Ritalin-erschöpft, dass man von selbst wieder runterkommt. Sascha Lobo erzählt, dass man Ritalin ganz leicht verschrieben bekommt, wenn man sich als jemand darstellt, der Ärger mit getting things done hat; findet aber, dass es nicht immer Drogen sein müssen; auch Gevögelthaben oder einen Autounfall Gehabthaben könne vielleicht individuell die Arbeitsbetriebsamkeit auslösen, die man sucht. Halt Eigenbehandlungen verschiedener Arten ausprobieren und dabei quer durch den ganzen Garten gehen, “wie komme ich in den Zustand, wo ich gut arbeiten kann”, ordentlich frei rumexperimentieren.
6. “Nicht gegen die eigenen Bedürfnisse ankämpfen.” “Ein alter Klassiker der Entschuldigungsliteratur.” Wenn ich merke, dass ich zwischen 8 Uhr und 17 Uhr nichts geregelt kriege, warum dann nicht erst um 17 Uhr damit anfangen? Kathrin Passig ergänzt, dass Peter Glaser lange Zeit dagegen gekämpft habe, ein Nachtmensch zu sein, versucht habe, sich zum Tagmensch zu reformieren. Dann hat er es irgendwann einfach bleiben lassen, dagegen anzukämpfen, und seitdem klappt alles wunderbar.
7. “Nicht davon ausgehen, dass man aus Fehlern lernt.” “Wenn man nicht aufpasst, kann man den selben Fehler hundertfünfzig Mal machen.” Kathrin Passig hat damit experimentiert, sich eine schriftliche “Lessons learned”-Liste zu machen, die hilft zumindest ein bisschen.
(Eine “Neo-Moral” ist das, jawollja, die hier entsteht. Mein Gesprächspartner im IRC dagegen schlägt sich nur noch an den Kopf und findet das hier alles grauenvoll und peinlich und anti-sozial.)
8. “Erinnerungs- und Druck-Last umkehren.” Wenn man etwas verabrede, dann dem Anderen die Mühe und Verpflichtung aufhalsen, einen nochmal vorher dran zu erinnern. Auch kollaborative Arbeitsprozesse so strukturieren, dass man nach Erledigung des eigenen Teils nicht auf das Fertigwerden der Anderen warten und in dieser Hinsicht auf sie Druck ausüben muss, sondern umgekehrt, es so strukturieren, dass die Anderen diejenigen sind, die auf einen angewiesen sind und einem Feuer unterm Hintern machen müssen.
9. “Arbeiten mit Menschen, die man ungern enttäuscht, aber auch nicht so ungern.” Also man solle nicht befürchten müssen, dass sie, sollte man sie enttäuschen, total ausrasten und einem weh tun; aber man solle nicht in ihrer Gunst fallen wollen. Ein bisschen Enttäuschungspotential muss man aber schon akzeptieren können.
10. “/zehnten Grund noch ausdenken”
Passig schiebt noch eine moralische Rechtfertigung hinterher. Sie habe ein bisschen in Getting-Things-Done- & Anti-Aufschieberitis-Literatur die letzte Zeit gelesen und die eigene Personenklasse am ehesten in einer abschätzigen Beschreibung als “die Abgehobenen” wiedergefunden. Diesen werde vorgeworfen, sich für zu toll, kreativ usw. zu halten, um sich den Zwängen und Anforderungen der Gesellschaft unterordnen zu müssen. Sie widerspricht. Man müsse sich nicht alles aufhalsen. Manches werde aus guten Gründen als Plage empfunden, und die Gründe lägen nicht unbedingt bei einem selbst. Man muss aufhören, die Schuld dafür bei sich selbst zu suchen. Man setze beim falschen Ende an, wenn man sich Selbsthilferatgeber kauft, nur um sich erklären zu lassen, wie man sich am besten den Zwängen der Außenwelt anpasse. Warum nicht mal die Dinge woanders hin schieben als auf die eigenen schwachen Schultern.
4.45 Uhr: Sonnendeck
Hm. Ja, doch, da eben war Feuer drin. Die hier produzierte Einstellung hätte meines momentane Erachtens durchaus Potential, sich mit Erfolg gegen ältere Muster zu behaupten, dahingestellt, ob nun zum Guten oder Schlechten. Ich bin völlig euphorisiert. Das jetzt eben zusammen mit dem vorherigen Prokrastinationsding ist für mich der bisherige programmatische Höhepunkt des 9to5. Stimmungsmäßig bei mir gerade kein Vergleich zu meiner eher enttäuschten Stimmung gestern zur selben Zeit.
Hier läuft gerade auf der Leinwand im Hintergrund “The Corporation”. Interessant, es ist nicht nur eine reine Kapitalismus-Polemik, es geht gerade auch um Biotech und die Pantentierung von Leben. Aber ich bezweifle, dass ich mir noch viel davon anschauen werde.
Ich rieche Cannabis.
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