Einen großen Teil meiner futurologischen Energie stecke ich letzter Zeit paradoxerweise in die Beschäftigung mit der Vergangenheit.
Wer nicht nur in Zuständen, sondern in Veränderungsprozessen denken will, gerade auch solchen breiten technischen, wirtschaftlichen, psychologischen, politischen Ausmaßes, sollte doch in den Geschichtswissenschaften einige gute Anregungen finden? Kann man so Entwicklungslinien in die Zukunft mit mehr Fundament extrapolieren? Gerade den futuristischen Modellen der Entwicklungsbeschleunigung bzw. der Singularität nach erfordert (und schult vielleicht auch) ein solcher Blick zurück fortwährende Anpassung der Perspektive; vor allem auch eine rasche Erweiterung des Blicks in die Vergangenheit, bis hinaus dorthin, wo das klassische "Historische", d.h. das, was sich schriftlicher Quellen bedienen kann, aufhört; wenn man z.B. die Schrift selbst als eine Singularität wertet, muss man für die Entwicklung dorthin die Entwicklungszeit um ein zwei Größenordnungen erhöhen, dito für die Sprache, dito für irgendeine vermeintlich spezifische Form menschlicher Intelligenz (evtl. mit der Sprache) identisch; schnell blickt man nicht mehr nur drei, vier, fünf Jahrtausende Menschheitsgeschichte zurück, sondern dreihundert, vierhundert, fünfhundert Jahrtausende; bzw. bis in die biologische Entwicklungsgeschichte hinein.
Interessante Texte zur Frühgeschichte menschlicher Zivilisation:
- sicherlich irgendwie populärwissenschaftlich, aber denkerisch dennoch äußerst stimulierend: Jared Diamond,
"Guns, Germs and Steel: A Short History of Everbody for the Last 13000 Years" (Amazon-Affiliate-Link): Aufschlüsselung der verschiedenen Voraussetzungen für Entstehung und Entwicklung von Zivilisation unter verschiedenen geobiologischen Faktoren: Potentiale örtlicher Gegebenheiten für Populationsgrößen und -wanderungen und -kontakte, Stimulation und Ermöglichung bestimmter Technologien und ihrer nachbarschaftlichen Übertragbarkeit (manche Landwirtschaft wandert z.B. gut in der homogenen Horizontale Eurasiens, aber schlecht in der heterogenen Vertikale Amerikas oder Afrikas), Herleitbarkeit bestimmter Energiehaushalte aus der regionalen Flora und Fauna, wo sich wie welche Arbeitsteilungs- und Organisationsformen entwickeln und in welchen Entwicklungszuständen sie jeweils gewinnbringend sein mögen, usw.usf.; Geschichte als eine große Partie FreeCiv.
- Julian Jaynes,
"The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind" (Amazon-Affiliate-Link), umstrittene These eines Psychologen: die moderne Ausformung menschlicher Intelligenz, die man "Bewusstsein" nennt, ist historisch jung, entstand als erstes vor drei Jahrtausenden (lange
nach der Schrift!) im Mittelmeerraum und andernorts erst viel später; vorher funktionierte menschliche Intelligenz durch schizophrenes Stimmen-Hören (das Fassen von Gedanken war vorbewusst und wurde in stimmlichen Befehlen verschiedener simulierter Sprecher von der einen Hälfte des Gehirns an die andere, untertänige, unselbstbestimmte zur Ausführung weitergegeben), von persönlichen Göttern, Musen, verstorbenen Ahnen, abwesenden weltlichen Herrschern mit göttlicher Omnipräsenz, daraus die Genese von Totems, religiösen Vorstellungen und dem schizophrenen In-Zungen-Sprechen von Propheten und heiligen Narren, Einiges an moderner Geisteskrankheit einfach Atavismus aus dieser Zeit; unklar, ob Wandlung eher evolutionsbiologisch (bzw. künstliche Auslese durch Genozid an 'vorbewussten'/schizophrenen Menschen) oder eher kulturell-erziehungstechnisch herbeigeführt, in jedem Fall wohl Ergebnis neuer Herausforderungen an die menschliche Psychologie ab bestimmten zivilisatorischen Komplexitäten - Kulturtechnik formt Hirn
so tiefgreifend?
Einen eher futurologischen Menschheitsgeschichtsentwurf leistet sich abschätzig-rückblickend die überlegene Computerintelligenz
GOLEM bei Lem (Amazon-Affiliate-Link), stimulierende historiographische Kontroversen erwarte ich mir vom
Kulla'schen Chronologiekritikwerk, und derzeitige geschichtsforscherische Lektüren umfassen u.a. Jared Diamond,
"Collapse! How societes choose to fail or survive" und Norman Davies,
"Europe: A History" (Amazon-Affiliate-Links), ersteres mit großem Interesse für die Bedingungen ökologisch-wirtschaftlichen Kollapses gerade auch bei Völkern, die man aus romantischer Perspektive normalerweise nicht der bösen unökologischen Zivilisationskrankheiten verdächtigt (pazifisch-ozeanische Insulaner, amerikanische Ureinwohner), letzteres ein (von mir allerdings geradezu verschlungenes) Bücherschrankmonster, das europäische Geschichte gerade auch in ihren östlicheren Gefilden (z.B. wo ich gerade bin, Byzanz; der Autor gilt außerdem auch als großer Polonophiler) stärker herauszuarbeiten versucht, als das gemeinhin üblich sei.
Nachtrag: Beinahe ganz vergessen, weil, Lektüre liegt auch schon wieder ein ganzes Weilchen zurück, Alternate-History-Roman von Kim Stanley Robinson (futur:plom
favorite Mars-Trilogie),
"The Years of Rice and Salt" (Affiliate-Link), toll, Europa erliegt um 1400 vollständig der Pest (um dann im Laufe einiger Jahrhunderte von den Arabern rekolonialisiert zu werden; vom Mittelalter bleibt nur das Frankenreich im Begriff "Fringistan" übrig), jetzt liegt es an Islam, China und Indien, die Welt in die Moderne zu führen; die Genese der modernen Naturwissenschaft aus der Alchimie (Neal Stephenson,
"Quicksilver" (Affiliate-Link)) vollzieht sich also nicht in Europa, sondern bei Samarkand/Seidenstraße, und die Entstehung des Feminismus wird zum islamisch-buddhistischen Joint-Venture. In einem der letzten Kapitel gibt's auch ein zwei Zeilen, die ziemlich offensichtlich auf den Julian Jaynes (siehe oben) Bezug nehmen.
Monday September 22, 2008
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(hier war mal AdSense-Werbung, heute aber nicht mehr)
Kommentare
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Sehr schön.
Bei mir ist es tatsächlich auch so, dass ich über mein Interesse an der Zukunft in die Vergangenheit gekommen bin.
Die Idee die in “The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind” behandelt wird ist mir auch schon hin und wieder unter gekommen. Jetzt weiß ich endlich wo es herkommt :)
Klingt faszinieren. Es klingt allerdings auch so, als müsse man das ganze sehr mit Vorsicht genießen.
Werde auf alle Fälle einiges von dem angeführten auf meinen Lesestapel packen. Dann muss es “nur” noch gelesen werden.
Man bräuchte einfach mehr Zeit ;)